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Gottfrieds Kolumne

 

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Laufträume
Laufanfälle
Null-Checker
 
Gottfried Glöckner
 
Null-Checker

Wer versagt, ist out. Das gilt nicht nur für Läufer, auch Fußballer, Skispringer und all die vielen kleinen und großen Menschen können ein Lied davon singen. Warum einer scheitert, spielt meist keine Rolle. Krankheit, Verletzung, Alter oder situative Unpässlichkeit werden als Motive nicht anerkannt. Was zählt, ist der Erfolg. Und wer das Klassenziel verfehlt, wer unterm Strich bleibt, egal in welchem Bereich, ist ein Looser oder Null-Checker wie es neudeutsch-modern heißt. Warum sollte es auch anders sein? Wir leben schließlich in einer Leistungsgesellschaft und nicken alle heftigst, wenn uns Politiker und Manager sagen: Leistung muss sich wieder lohnen. Dass wir bei den Leistungsverweigerern und Versagern immer nur an die anderen denken, versteht sich von selbst. 
Jüngstes Beispiel: Sven Hannawald. Hanni, unser Sonnyboy, schaffte bei der Ski-WM in Val di Fiemme die Sensation und durfte nicht mal aufs Treppchen. Die leidgeprüfte TV-Gemeinde musste mit Platz 7 vorlieb nehmen. Was für ein Frust. Der TV-Gucker heulte bei Hannis Sprung laut auf und ertränkte anschließend seine Enttäuschung bei einem Weizen. Noch drei weitere solcher Sprünge und Hanni reiht sich umstandslos ein in die Riege der Versager. Das geht schnell heutzutage. In Zeiten wie diesen, in denen das Veränderungstempo rapide zunimmt, wächst auch das Veraltungstempo. Der Ruhm von gestern zählt nichts mehr. Vom Hero zum Looser ist es nur ein kleiner Schritt. 
Das musste auch Bayer 04 Leverkusen schmerzlich erfahren. Gestern noch Champions-League-, Pokal- und Meisterschafts-Vize – heute die Lachnummer der Nation. Und mittendrin Calli, der Dicke vom Werk, rheinische Frohnatur und letzter Fußball-Romantiker mit Hang zur Sentimentalität. Wer ihn sieht, den 140-Kilo-Mann – gerissen, witzig, jovial, gemütlich - kann nicht anders als ihm alles Gute wünschen. Solches Mitgefühl ist heute die Ausnahme. Wir leben in einer Zeit der Biertischstrategen. Was zählt, ist das schnelle Urteil, der flotte Spruch, die gelungene Pointe. Worte wie Versager, Weicheier oder Nullen bilden hier das Wortschatzgerüst. Doch dies gilt nicht nur für die sachkundigen Brüder mit den roten Bluthochdruckköpfen und den lauten, halbfertigen Gedanken, nein, es betrifft auch die, die es besser wissen müssten. Seien wir doch mal ehrlich. In jedem von uns steckt so ein kakaphonischer Stammtischbruder, der um gehört zu werden, laut und bierselig in das Schnellurteils-Geschrei einstimmt. Auch wir schimpfen, wenn Hanni zehn Meter zu kurz springt oder bekannt wird, wie viele Millionen Effe verdient. 
Wir sind die ersten, die über andere richten und den Stab brechen, wenn sie uns enttäuschen. Auch wir sind gnadenlos. Denn Misserfolg will keiner, Misserfolg ist hässlich, schlecht, macht depressiv und aggressiv. Das gilt in der Politik, im Beruf, in der Familie und auch im Sport. Wir alle sind beseelt vom Siegen und Gewinnen, fordern von den anderen immer Höchstleistung und vergessen allzu leicht, dass wir auch oft keine Lust haben, der Job uns stinkt, Familie und Kollegen uns anöden und wir viel lieber den ganzen Tag im Bett blieben. Aber das ist eine andere Geschichte. 
Mit uns gehen wir sanfter um, sind nachsichtiger und hängen die Messlatte tiefer. Die anderen sind die Übeltäter, unser schlechtes alter ego. Das sortieren wir aus, erst gedanklich, dann physisch, schließlich scheint es uns, als existierte es nicht mehr. Welch ein Irrtum! Die Looser und Null-Checker, sie kehren zu uns zurück – manchmal auf schreckliche Weise, wie uns Robert Steinhäuser, der Killer aus Erfurt oder der 17-jähriger Sniper aus LA gezeigt haben. In diesen Augenblicken wird uns klar, dass Sieg und Niederlage, Erfolg und Misserfolg zwei Seiten der einen Medaille sind. Wir können das eine nicht ohne das andere haben. Das Leben ist nun mal so. Und so müssen wir auch im Sieg und im Erfolg kühlen Kopf bewahren und wenn wir glauben, auf der sicheren Seite zu sein, daran denken, dass wir schon morgen zu den anderen gehören können. 



Laufanfälle
Laufen ist wie Lieben! Erst strampelt man sich ab, und wenn es dann soweit ist, kommt man erschöpft, aber glücklich ins Ziel. Dazwischen hangelt man sich von einer Höhe zur nächsten, durchlebt Gefühle größter Wonne, höchsten Glücks. Jetzt mal ehrlich: Es gibt doch keine Tätigkeit, die schöner und fröhlicher stimmen und die Fantasie mehr beflügeln könnte. Wo außer beim Laufen fliegt der Geist gemeinsam mit dem Körper. Wo außer beim Laufen durchdringen sich Körper und Geist intensiver. Im Rhythmus der Füße, im Schwingen der Arme, im Pulsieren des Blutes ist der Mensch eins mit sich und seiner Umwelt. 
Im Idealfall joggt der Läufer, die Läuferin durch sein ganzes Leben, erlebt frühe Kindheit, Landschaften und Städte und wandert wie ein Geist durch die Vergangenheit. Es muss eine Entsprechung geben zwischen Lieben, Laufen und Träumen. Im Traum ist der menschliche Geist oft schwerelos wie in der Liebe oder beim Laufen. Da entwickelt er seltsame Kräfte der Fortbewegung. Er läuft, er schwebt über dem Boden, er fliegt durch die Lüfte. 
Bestimmt sind diese märchenhaften Bravourleistungen frühzeitliche Überbleibsel, halluzinatorische Erinnerungen an ein Dasein voller Leichtigkeit und Mühelosigkeit. Beim Laufen durchdringt der Geist den Körper und hebt ihn empor. In Füßen, Lungen, beschleunigtem Herzschlag erlebt der Läufer eine Erweiterung seines Selbst. Die quälenden Probleme des Alltags, die ich mir an einem langen, stockenden, manchmal frustrierenden Tag schaffe, kann ich in der Regel durch Laufen am Abend abschütteln. Lösen kann ich sie nicht immer. An Tagen, an denen ich nicht laufen gehen kann, bedrückt mich ein Gefühl der Schwere, habe ich den Eindruck, nicht ich selbst zu sein und wer immer auch dieses lauflose Selbst ist, es ist beladen und unfrei und ich mag es tausendfach weniger als das andere. 
Solange ich denken kann, bin ich in Bewegung. Von klein auf rannte ich über die Felder in die Wälder. Wenn es nicht Laufen war, dann Rad fahren, Schwimmen oder Gehen. Wobei Gehen ohne die Nähe einer Freundin, selbst schnelles Gehen, nur ein schlechter Ersatz fürs Laufen war. Das wusste schon Franz Kafka, der Verzweifelte, der immerzu vor dem Gesetz auf und ab lief oder mit dem Ruderboot auf der Moldau die selbstgestellten Rätsel zu lösen suchte. Auch ist es nicht überraschend, dass der Romantiker Joseph von Eichendorff beeindruckende Entfernungen durchwandert hat, denn man kann den pulsierenden Takt eines Läufers in seinen sonnendurchfluteten, fröhlichen Gedichten spüren. Noch etwas: Selbst der britische Premier Winston Churchill, berühmt für seinen Spruch: No sports!, rannte in seiner Jugend meilenweit durch den Hyde Park. 
Als ich jetzt im Mai, drei Monate nach meiner Verletzungspause, wieder zu Laufen anfing, war es, als schleppte ich tausend Tonnen Ballast mit mir rum. Das musste in den folgenden Wochen erst einmal abgebaut werden. Und mich überkam ein solches Schuldgefühl, dass ich beinahe zwanghaft rannte. Nicht als Ausgleich zu den Anstrengungen des Alltags, sondern um den Alltag überhaupt bewältigen zu können. Während ich lief, lief ich in Gedanken Arbeitsabläufe durch, sah ich Formulierungen und Lösungen mit einer solchen Klarheit vor mir, dass ich sie nur aufschreiben musste, wenn ich zu Hause ankam. Was für eine seltsame Erfahrung. 
Ohne die Laufanfälle könnte ich das Leben, glaube ich, nicht durchstehen. Sowohl Laufen als auch Lieben sind stark süchtig machende Aktivitäten. Beide sind unzertrennlich mit einer Art gesteigerten Bewusstseins verbunden, bei der die üblichen Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt sind. Laufen, auch Lieben erlaubt ein erweitertes Bewusstsein, bei dem ich Dinge sehe wie im Traum. Keine Frage: Träume können zeitweilige Exkurse in den Wahnsinn sein, die uns wie eine Firewall vor tatsächlichem Wahnsinn bewahren. So halten uns auch die verwandten Aktivitäten Laufen und Lieben relativ geistig gesund und schützen uns vor Gefängnis, Psychiatrie und manchmal auch Arbeitslosigkeit. 



Laufträume

Von Gottfried Glöckner

Die Frühling kommt über Nacht, heißt ein Sprichwort. Er kommt als Überraschung, als Überrumpelung, wenn er früh morgens seine funkelnden Sonnenstrahlen auf die Erde wirft. Es ist Mitte März und geradezu spielerisch verzaubert er an diesem Samstag Bäume, Gärten und Felder. Unten auf der Straße, unmittelbar vor dem Fenster, sehe ich eine Vielzahl von Läuferinnen und Läufern vorbeijoggen. Ihre Gesichter strahlen Zufriedenheit, ja Glück aus. Ein sicheres Indiz, dass Winter und Kälte passé sind. Jetzt ist die Zeit reif für Aufbruch und Erneuerung.

Ich sitze am Fenster und schaue dem bunten Treiben tatenlos zu. Das linke Bein auf einem Hocker ausgestreckt, ist es von der Fußspitze bis zum Oberschenkel in Gips verpackt. Stabilisierender und schützender Mantel über einer 20 Zentimeter langen Narbe, unter der die Achillessehne zusammengeflickt ist. Schmerzen spüre ich keine mehr. Ab und zu ein leichtes Ziehen, nach zwei Wochen Krankenhaus schon ein großer Fortschritt. Wer je verletzt war, weiß auch Minimalverbesserungen zu schätzen. 

Man fängt klein wieder an, nicht nur körperlich. Keine hochfliegenden Pläne, keine hochgesteckten Ziele peinigen das Läufergewissen. Die 10 Kilometer endlich unter 35, der Halbmarathon in 1:20 Stunden, alles Gedankenschnee von gestern. Was jetzt zählt, ist die Politik der kleinen Schritte. Nächste Woche Gips ab und dann neun Wochen Spezialschuh mit drei Keilen drin. In drei Monaten der erste Zehnminuten-Lauf. Dann schreiben wir Mitte Juni und der Sommer läuft auf Hochtouren. Diesmal ohne mich.

Jeder kennt sie, die traurigen Zeiten, wo alle Welt auf den Beinen ist, nur man selbst bleibt zurück. Laufend würde man am liebsten schreien, oder nur rufen, oder nur lachen, oder nur etwas sagen und tut’s bei Gelegenheit auch. Und wenn man’s nicht tut, hüpft zumindest das Herz vor Freude. Aber gefesselt an den Stuhl, bleibt man stumm. 

Ich will ja nicht undankbar sein. Doc Engelhardt von der orthopädischen Uniklinik in Frankfurt hat sein Bestes getan. Bandumkehrplastik nennt der Mediziner den Eingriff bei einem Komplettabriss der Achillessehne. Dabei wird aus dem dickeren nach oben geflutschten Sehnenstrang ein Teil abgetrennt, nach unten geklappt und mit dem verbliebenen unteren Sehnenstumpf vernäht. Die Ergebnisse, das zeigen die Beispiele von anderen Sportlern, sind äußerst ermutigend. Lothar Matthäus zum Beispiel kickte nach zwei Abrissen in derselben Sehne noch zwei Jahre Bundesligafußball auf hohem Niveau. Und auch mir prognostiziert der Doc einen positiven Heilungsverlauf. Was immer das heißen mag

Bis zum ersten Sicherheitslauf habe ich noch eine Weile Zeit. Viel Muse also, anstatt Körper- etwas mehr Gehirnjogging zu treiben. Das ist nicht das Schlechteste heutzutage. So kann es passieren, dass ich an einem Samstag wie diesem mit Klaus, Jörg, Ahmed und Heinz, Ursula und Ellen im Wäldchen unterwegs bin. Locker traben wir durch den Stadtwald am Böllenfalltor. 

Traumhaft wie das in Gedanken so leicht und schwerelos schnurrt. Tief sauge ich die frische Waldesluft in mich auf und lausche den Gesprächen und dem Lachen der anderen. Spüre, wie das Blut warm durch den Körper fließt. Ein Trost, sage ich mir, dass auch Laufträume wahr sind und zur Wirklichkeit gehören – auch wenn sie zweifellos weniger anstrengend und leichter zu bewältigen sind.



Angsthasen

Von Gottfried Glöckner

Angst, sagte einst vor über 150 Jahren der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, Angst ist nichts anderes als der "Wirbel der Freiheit". Recht hat er. Denn in der Angst wird uns klar, dass keiner da ist, der einem hilft. Das muss man schon selber tun. Handeln, nicht lähmendes Entsetzen ist also angesagt. Wie ich drauf komme? Der Spruch fiel mir ein, als ich vor wenigen Tagen Vitali Klitschko, auch Dr. Faust genannt, gegen den Amerikaner Bean – nicht Mr. Bean, sondern Vaughn Bean - kämpfen sah. 

Beide Boxer blickten vor dem Kampf so, als würden sie gleich auf die Schlachtbank geführt. Ist es Anspannung, die Furcht vor den Schlägen? Wohl kaum. Es mischt sich so etwas wie Todesangst ins Leben: Keiner weiß, was passiert. Klitschko, Doktor der Philosphie, gab sich ganz cool. Dachte er etwa an Kierkegaard? Ich denke eher, ihm war das Herz in die Boxer-Hose gerutscht. Die Star Wars Musik diente nur dazu, das waidwunde Gemüt auf Stärke zu trimmen. Als er die Stufen zum Ring hinaufstieg, blies Klitschko wie wild die Backen auf, ballte die Fäuste, als wollte er sagen: Gott hilf! 

Angst habe ich vor meinen Läufen übrigens auch. Egal ob Volkslauf oder Marathon. Es ist, als liefe man um sein Leben. So mag es auch Anni Friesinger in Salt Lake City über 3000 Meter gegangen sein. Wie teile ich das Rennen ein? Kann ich das Tempo halten? Bei welcher Pulsfrequenz kommt der Kollaps? Steige ich aus, wenn’s zuviel wird? Was sagen die anderen? Oder schlimmer noch: Was passiert, wenn ich nicht gewinne? Diese Ungewissheit löst Angst aus. Alle kennen das. Schon in der Schule stieg vor jeder Klassenarbeit die Spannung ins Unermessliche. Vor jeder Prüfung hätte man sich gewünscht, nie geboren zu sein. Jedes Bewerbungsgespräch war wie der Gang zum Schafott. Und vor jedem Lauf peinigt einen der Zweifel: Wie stehe ich’s durch? Die ewig alte Leier: Selbsterhaltung contra Herausforderung.

Kein Wunder, dass viele vor solchen freiwillig initiierten Lebenskämpfen 20mal in die Büsche müssen. Manche kotzen sogar. Ein früherer Freund zum Beispiel, er heißt Peter und ging trotz Frau und zweier Kinder permanent fremd - jetzt ist er übrigens Augenarzt und seriös - Peter also erbrach exakt 30 Minuten vor jedem Fußballspiel sein gesamtes Mittagessen. Egal ob es gegen den Tabellenersten oder den -letzten ging. Es war eine richtige Zeremonie. Anschließend war er erleichtert und brachte die beste Leistung. Deshalb verzichtete er auch nie auf sein Mittagessen. 

Eisenfaust Klitchko musste nicht kotzen. Auch sein schwarzer Kontrahent nicht. Obwohl der keine 2 Meter wie Klitschko misst und nur 72 statt 81 Zentimeter Reichweite besitzt. Solche Mannsbilder zeigen keine Angst und gehen auch nicht fremd. Das brauchen sie nicht, denn sie haben keine Frau. Jedenfalls keine wie wir. Sie spüren den "Wirbel der Freiheit" und nutzen ihn. Wie wir Läufer übrigens auch. Deshalb tänzeln wir auch immer so rum vorm Start. Wollen uns die Anspannung aus dem Körper schütteln. Erst rennen wir uns warm und gucken, was die anderen so machen. Dann dehnen wir ein wenig. Wenn wir uns am Start aufstellen, fangen wir an zu hüpfen. Es ist jedes Mal dasselbe. 

Beim letzten Frankfurter Euro-Marathon war ich Hypernervös und hatte gleichzeitig Angst. Ich wollte es unbedingt wissen und mindestens 3 Stunden 10 laufen. Als ich locker zum Startbereich trabe - Bereich A1, den Schnellsten also - rückt mir eine schmale Blonde den Träger meines Lauf-Shirts zurecht. Ich bin verduzt, dann lache ich, schließlich flachse ich mit ihr. Frage sie, wer wohl am Ende die Nase vorn haben wird. Sie lacht und antwortet: Natürlich ich. Ich drücke sie kurz und wünsche alles Gute. In dem Moment spüre ich den "Wirbel der Freiheit".

Wirbel sehe ich auch in Runde vier als Klitschko dem Bean eine solche Rechte verpasst, dass der halb einknickt. Das Volk klatscht und johlt. Bei Bean schwillt das Auge zu. Er wankt, fällt aber nicht. Der Kommentator sagt: "Bean ist das achte von elf Kindern, für die gesorgt werden muss". Ich stutze. Hält der etwa deshalb die Rübe hin? Anni Friesinger ist 22 und misst nur 1 Meter 60 . Sie hat keine Kinder – nur einen Bruder. Groß ist sie trotzdem. Auch wenn Claudia Pechstein Gold gewonnen hat. 

Plötzlich feuert Hessens Ministerpräsident Roland Koch die Startpistole ab. Alle rennen los. Auch die Blonde und ich. Ich kenne nicht mal ihren Namen. Wäre das die Frau fürs Leben? In dem Moment wird der Regen immer stärker. Ich fluche. Laufe viel zu schnell an. Die Blonde sehe ich schon nach wenigen Metern nicht mehr. Trotzdem schnurrt es richtig gut. Ich bin zufrieden mit mir. Das kann Klitschko auch sein. In Runde elf traktiert er Gegner Bean dermaßen, dass der wie ein Sack im Ring umher taumelt. Technischer KO, zeigt der Ringrichter an. Bean ist happy, dass Schluss ist. Klopft Witaly wie wild auf die breiten Boxer-Schultern, als wollte er sagen: Gott sei Dank, dass du mich am Leben gelassen hast. Anni Friesinger ist enttäuscht. Sie hat alles gegeben. In ihrer Angst lief sie Olympischen Rekord. Das reichte nicht. Claudias Angst war größer: Sie schaffte den Weltrekord und gewann. 

Als ich nach 3 Stunden 20 Minuten völlig durchnässt das Ziel erreiche, bin ich ausgelaugt und platt wie Bean. Bin weder Welt- noch Olympischen Rekord gelaufen. Fühle mich trotzdem elend und wanke wie in Trance an die Getränkestände. Angst habe ich jetzt keine mehr. Bin froh, dass mich die Blonde vom Start nicht sehen kann. Obwohl ich mir gerade jetzt vorstellen kann, sie in die Arme zu schließen. Genieße in diesen Sekunden den "Wirbel der Freiheit". Soll ich eine Zigarette rauchen, laut aufschreien oder ein Bier trinken? 

Keiner bejubelt mich, keiner stellt Fragen, die Masse der Läufer ist mit sich selbst befasst. Irgendwie bin ich stolz auf mich. Plötzlich sehe ich meine Traumfrau, nur wenige Meter von mir entfernt. Sie liegt einem anderen Mann in den Armen. Der tröstet sie. Ich bin enttäuscht wie Friesinger und Bean. Besser erging es Kierkegaard. Der ist nie in seinem Leben gelaufen. Dafür war er dreimal mit derselben Frau verlobt und erlebte jedes Mal den permanenten "Wirbel der Freiheit". Ergebnis: Er entschied sich für Gott. Das tröstet mich.



Achilles
Von Gottfried Glöckner

Achilles war ein großer Held. Damals vor mehreren tausend Jahren, als er die Leiche Hektors um die Mauern Trojas schleifte. Dumm nur, dass er später durch einen von Liebesgott Apoll gelenkten Pfeil des Paris an der Achillesferse tödlich getroffen wurde. Geht’s mir jetzt auch so? Keine Angst, ich bin weder Held noch Achilles und ans Sterben denke ich auch noch nicht. Aber ich kann hassen wie Achilles. Auch wenn es jetzt Januar ist und saukalt. Diese Leidenschaft zu hassen, bringe ich noch auf. 

Allerdings gilt mein Hass nicht Hektor, sondern meinem Arzt. Wenn ich nur dran denke, an überfüllte Wartezimmer, überforderte Arzthelferinnen, griesgrämige Patienten und den Doc – dann schießt mir das Blut ins Gehirn. Der Puls rast auf Tempo 180 und ich könnte kotzen, nur noch kotzen. Auch wenn der Magen leer ist und ich null Bier getrunken habe. Die sterile Gleichgültigkeit, die monotonen Antworten auf hilfesuchende Fragen, das geschäftsmäßige: "Sie haben Ihre Rechnung noch nicht bezahlt." – lässt mich zum heimlichen Mörder werden. 

Ich spreche in Rätseln? Zum Hintergrund. Seit einigen Tagen steht fest: Mein Achilles ist eingerissen. Die Kernspin brachte es an den Tag. Ein kleiner sauberer Einschnitt – wie ein Stück Kuchen, das fehlt. "Ein Viertel ist weg", sagt der Doc. Er tippt mit dem Finger auf die Aufnahme: "Hier", sagt er, "an dieser Stelle ist’s passiert." Und es ist, als lege er den Finger direkt in die Wunde. Ich sage: "Schön, was kann man machen?" Antwort: "Jetzt nichts mehr." Ich: "Und vorher?" Er: "Vor sechs Wochen hätte man gipsen können, jetzt ist es zu spät." Ich verkneife mir eine Bösartigkeit und frage: "Was machen wir jetzt?" Er: "Gar nichts. Sie kommen in sechs Wochen wieder und dann sehen wir weiter."

Ich lache laut auf! "In sechs Wochen?", frage ich ungläubig. "Und was passiert dazwischen?" Er: "Schonen und leicht dehnen." Ich frage: "Wie schonen?" "Ja, normal gehen und leichte Dehnübungen machen." "Aha", sage ich, und zweifele an meinem Verstand. Ich versuche einen letzten Vorstoß: "Kein Tens", frage ich, "keine Enzyme, kein Laser, Cortison oder sonst was?" "Nichts", sagt er, "das wächst von alleine wieder zusammen." "Aber ich kann kaum schmerzfrei gehen", sage ich. "Das ist bei solchen Verletzungen immer so", antwortet er leicht gereizt. 

"Und was passiert, wenn es wieder zusammen gewachsen ist?" frage ich. "Kann ich dann wieder laufen, trainieren, Tempoläufe, lange Läufe machen, sechs mal die Woche rumrennen?" "Kann sein, dass Sie gar nicht mehr laufen können", meint er lapidar. "Zwei, drei Mal joggen die Woche, mehr nicht." Ich glotze ihn an wie ein Schaf. "Mehr nicht", murmele ich mehr deprimiert als fragend in mich hinein. Er reicht mir die Hand und kaum bin ich draußen, bittet er schon den nächsten rein. Er verliert keine Sekunde, denke ich. Dabei war ich höchstens vier Minuten im Sprechzimmer. Bin ich etwa zu ruhig, nicht energisch genug oder habe ich etwa die falsche Kasse? 

Klaus Hofmann sagte kürzlich: Therapie ist immer auch eine Frage der Kasse. Er muss es wissen. Lag schon auf dem OP, als man ihn unverrichteter Dinge wieder nach Hause schickte. Das hatte aber nichts mit der Kasse zu tun. Im Gegenteil. "Ihr EKG stimmt nicht", sagte der Professor zu Klaus. "Wie, mein EKG stimmt nicht", staunte Klaus. "Es zeigt Herzrhythmusstörungen an." "Was?" Klaus lachte laut auf. "Ich hatte noch nie Herzrhythmusstörungen", sagte er. "Ich bin kerngesund." "Das EKG lügt nicht", sagte der Professor. "Ich operiere Ihren Schleimbeutel heute nicht. Und damit basta!"

Klaus kommt sich vor wie einer, den man mit dem Hammer auf den Kopp geschlagen hat. Liegt nackt im OP-Kittel auf dem Tisch und darf sich jetzt wieder anziehen, ohne dass was passiert ist. Der Schleimbeutel frohlockt: Noch mal davongekommen. Jetzt darf er weiter den Achilles reizen und sein Unwesen treiben. Warte nur, denkt Klaus. Wenn das EKG wieder funktioniert, geht es dir an den Kragen, alles nur eine Frage der Zeit. Der Schleimbeutel lacht: Langsam mein Freund, du weißt, was Achilles wiederfuhr. 

Klaus sagt nix mehr. Und ich denke, vielleicht wechsele ich den Arzt und gehe zum Professor. Der soll gut sein und Experte in Achillesfragen. Vielleicht akzeptiert er sogar meine Kasse und den Frevel, dass ich vorher woanders war. Vielleicht schickt er mich aber auch wieder nach Hause und sagt: Sie haben Herzrhythmusstörungen und nichts am Schleimbeutel. Und ich antworte: Ich kenne den Trick, ich bin gesund, habe gar nichts und gehe jetzt nach Hause. Und der Professor nickt und sagt: Kommen Sie in sechs Wochen wieder. Und ich sage: Alles klar: Das EKG lügt nicht, auch wenn es kaputt ist, Achilles wächst von alleine wieder zusammen und in sechs Wochen schleife ich Sie als Leiche um die Häuser Frankfurts.



Berserker
Von Gottfried Glöckner

Wenige Tage noch und 2001 ist Geschichte. Zeit, Einkehr zu halten. Wie hätten wir’s denn gern? Besinnlich oder betroffen? Fest steht: Viel passiert in diesem Jahr. Alle Katastrophen, alles Glück dieser Erde ziehen am geistigen Auge vorbei – politisch, beruflich, privat. Jeder zieht seine eigenen Schlüsse. Welche Schlüsse ziehen wir Sportler? Vielleicht denken wir: Prächtig gelaufen in 2001. Oder: Wenn ich für jede Sekunde, die ich langsamer gewesen wäre, ein Leben hätte retten können, Tausende Stunden würde ich drangeben. Manche sagen sich: Im Frühjahr etwas intensiver trainiert, wäre ich in Zeilhard oder Griesheim zwei Minuten schneller gelaufen. 

Es soll auch welche geben, die in diesen Tagen an ihre Familien denken und den Frust, wenn wir an sechs, manche an sieben Tagen der Woche unterwegs waren. Ich frage mich: bringt’s das? Zwei Minuten schneller und im Gegenzug Woche für Woche Sprachlosigkeit. Dauerfrust als Familienprogramm. Immerhin 50 Prozent aller Sportlerfamilien enden beim Scheidungsrichter. Hab’ ich mal gelesen. Hauptgrund: Sport als Hassobjekt. Wollen wir das? 

Warum übertreiben wir auch immer so schamlos? Können uns nie mit Halbheiten begnügen. Entweder ganz oder gar nicht, heißt unsere Parole. Dabei: Gegenüber Fremden, Freunden oder Wettbewerbern tun wir immer so, als trieben wir überhaupt keinen Sport. Frei nach dem Motto: Minimaler Aufwand, maximaler Erfolg. Und wenn wir den Konkurrenten in Grund und Boden gerannt haben, heißt’s immer: Ach, soviel hab’ ich gar nicht gemacht. Wer’s glaubt. 

Tatsächlich schinden sich all die regionalen, nationalen und internationalen Größen wie die Berserker. Und zwar in jeder Altersklasse. Das Wort Berserker stammt übrigens aus dem Isländischen und bedeutet: ein in ekstatischer Wildheit kämpfender Krieger. Sind wir aus diesem Holz geschnitzt? Sind wir verkappte Krieger, die sich den Sportplatz, die Laufbahn als Ersatz-Kampfbahn ausgesucht haben? Selbst Hobbyläufer wie ich bringen’s in der Regel auf acht Stunden pro Woche. Waow, staunt der Laie und tippt sich an den Kopp. 

Kein Wunder, wenn beim nächsten Lauf der Partner laut aufheult und Sohn oder Tochter stöhnen: Was, schon wieder? Welche Konsequenzen ziehen wir aus alldem für 2002? Nur weiter so? Noch mehr trainieren bis wir umfallen oder eine Verletzung uns jäh ausbremst? Dann haben wir zwar nach Feierabend oder am Wochenende alle Zeit der Welt. Aber ist das auch erstrebenswert? Missgelaunter Familienvater mal gutgelaunte Frau und Sohn bzw. Tochter macht immer noch ein dickes Minus. So haben wir es jedenfalls in der Schule gelernt.

Doch Spaß beiseite. Wie sehen die Perspektiven für’s nächste Jahr aus? Noch besser werden, Niveau halten, vielleicht gar reduzieren und ab und zu mal eine Denkpause einlegen? Ich jedenfalls entscheide mich fürs Ganze: die ekstatische Wildheit, den Scheidungsrichter und jede Menge Schulden. Wer macht mit?



Masochisten

Masochisten sind Menschen, die Lust verspüren, wenn sie sich selbst quälen oder von anderen gequält werden. Lustgewinn durch Schmerzempfinden. Das sagt zumindest der Duden. Und der hat immer Recht. Wenn ich an meinen letzten Marathon denke, muss ich sagen: Ich bin kein Masochist. Jedenfalls fand ich es gar nicht lustig als mir im Schlussabschnitt die Beine versagten und mein Hirn das Denken einstellte. Trotzdem soll es ja solche Duden-Menschen geben. Auch der Psychoanalytiker Freud berichtete um die Jahrhundertwende von seltenen Exemplaren, die sich auf den nackten Hintern hauen und dabei fröhlich in die Runde schauen. 

Auch heutzutage hört man von ganz normalen Bürgern, die sich in irgendwelchen Clubs den ultimativen Kick verpassen – meistens am Wochenende, da hat man die meiste Zeit. Erst kürzlich stellte Sigi Heinrich, Kommentator von EUROSPORT, beim Anblick von Skisprinter Johann Mühlegg fest: Masochist – quält sich gerne! In der Tat sah Mühlegg nach 6,7 von 10 Kilometern hundserbärmlich aus: Irrer Blick, schnaufend, mit Schaumflocken vorm Mund. Ästheten wenden sich bei diesen Bildern mit Grausen. 

Ich gebe zu: Ich habe den Anblick genossen. Mühlegg pfeift auf dem letzten Loch. Da helfen ihm auch die übersinnlichen Kräfte seiner spanischen Putzfrau nix. Der ist richtig fertig, dachte ich. Endlich mal einer, dem es genauso geht wie einem selbst, beim Marathon, so ab Kilometer 30, wenn die Kräfte schwinden und man nur noch ‚Oma’ japst oder ‚Mama’ und die Welt und sich verflucht. Aber Lust in diesem Stadium? Habe ich jedenfalls noch nie empfunden. War auch nie besonders glücklich in solchen Augenblicken und auch Mühlegg sah nicht wirklich happy aus. 

Um so mehr wunderte ich mich über Heinrichs Kommentar. Woher weiß der Mensch das alles? Sagt einfach: Masochist und bumm. Jeder Zuschauer denkt: Aha. So sieht man also aus, wenn’s einem Spaß macht kurz vorm Abnippeln. Puls auf 180, Sternchen vorm Auge und die Engel überm Kopp. So ein Kommentar verleitet den TV-Gucker geradezu zum sinnlichen Genuss: Also schnell aufs Klo, Bier aus dem Kühlschrank und weiter Mühlegg gucken. Schnalzen mit der Zunge, wenn er einen Steilhang raufkeucht und dabei seltsam die Augen verdreht. Das macht Spaß. Schauen, wie andere sich mühen, abstrampeln und kotzend ins Ziel stürzen. Da klopft sich der TV-Sadist die Schenkel und grölt vor Vergnügen. 

Sind wir auch aus diesem Holz geschnitzt? Freuen uns, wenn andere leiden? Noch so ein Freud-Duden-Witz: In der Regel sind alle Masos auch Sados und umgekehrt. Wow, da muss ich erst mal tief durchatmen. Ertappt! Alle Läufer-Moral dahin. Wir sind keinen Deut besser, wissen das nur nicht. Also aufgepasst: Wer läuft leidet, hat Lust daran und verspürt diebische Freude beim Anblick anderer, die halb besinnungslos über die eigenen Füße stolpern. Am liebsten würde man die noch festhalten, damit’s länger dauert. Das wäre dann der echte Kick. Und insgeheim, das ist die Moral der Geschichte, hätten wir’s doch umgekehrt auch ganz gerne, wenn man uns noch piesackt nach 40 Kilometern. Zum Beispiel mit Plakaten: Quäl dich, du Sau! Mit Tröten, schreienden Kids oder sadistischen Kommentaren. Da sind wir in unserem Maso-Element. Fehlte nur noch, dass uns einer kurz vorm Ziel ein Bein stellt und wir sagen: Danke!

So sind wir halt, wir Sportler, immer fröhlich in allen Lebenslagen, stets gut drauf. Ob vor dem Fernseher oder im Wald, ob die Wade zwickt oder das Knie – wir sind immer lustig. Entweder weil wir uns an unseren Schmerzen oder an denen der anderen berauschen. Deshalb lieben wir auch Sonderling Mühlegg und hassen Kommentatoren wie Sigi Heinrich. Denn der ist nach eigener Aussage noch keine 10 Kilometer weit gejoggt. 

Meine Wünsche für 2002: Sigi Heinrich beim Marathonlauf zuschauen und ab Kilometer 30 die Kamera ins Gesicht zoomen. Anschließend ein Bier aus dem Kühlschrank holen und gucken, wie er das Ave Maria singt. Leider sind Fernseh-Leute äußerst clever: Die quatschen nur und lassen andere schnaufen. 



Frauen allein im Wald
Von Gottfried Glöckner

Unsicherheit, Beklemmung oder gar Angst beim Laufen sind mir fremd. Egal, wo und wann ich laufe, ob auf der Straße oder im Wald, morgens oder abends: Ich fühle mich sicher. Hunde, die mich gierig fixieren, brülle ich an! Jugendliche, die mich anpöbeln, ignoriere ich. Leute, die mich nicht kommen sehen, warne ich: Bitte nicht erschrecken! Bei Frauen, die mir im Wald begegnen, noch dazu allein, habe ich ein Problem. 

Das spüren die Frauen. Nicht speziell bei mir, sondern überhaupt. Frauen allein im Wald sind schutzlos, ausgeliefert. Nicht zufällig laufen sie meist mit anderen oder sind bewehrt mit Hunden, manchmal Kleinhanteln. Das kann ich verstehen. Denn es schüchtert ein. Aber sind sie allein: Je näher man sich kommt, desto größer wird die Unsicherheit. Dort Angst – hier Schuld. Diese Spannung baut sich schon von weitem auf. 

Den meisten kann man die Angst im Gesicht ablesen. Nur nicht hochschauen, denkt man, einfach vorbeilaufen. So tun, als wäre der andere nicht da. Nichts sagen, auch nicht grüßen, das könnte als Aufforderung missverstanden werden. Kommunikation mit Fremden im Wald – und sei sie noch so kurz – ist der erste Schritt zum Unheil. 

Warum ist das so? Übertreiben die Frauen? Sind wir wirklich potenzielle Unholde? Welche Gedanken durchzucken uns, wenn eine Frau unseren Weg kreuzt. Kommen alle Männer auf Gedanken? Oder sind es nur einige, über die man dann in den Zeitungen liest. Wie tief muss das Misstrauen sitzen, die Urangst, das Opfer von Gewalt zu werden. Und warum fühlt man Schuld in sich aufsteigen, wenn man einer Frau begegnet. Ist es Kollektivschuld, die man spürt? Die Ahnung, das Wissen von Barbarei, die das eigene Geschlecht angerichtet hat?

Fest steht: Die Unsicherheit ist tief verwurzelt. Es steckt ein Stück Erinnerung darin, an Chaos, Anarchie und Gesetzlosigkeit. Etwas vom Wilden, Ungezähmten hat in uns überlebt. Meistens ist es unter Kontrolle. In seltenen Augenblicken jedoch ahnen wir seine Macht. Aber seien wir ehrlich: Ist man dann auf gleicher Höhe, läuft aneinander vorbei, grüßt ganz höflich: Hallo! ist alle Anspannung dahin. Lächeln hier, Lächeln da. War doch gar nicht so schlimm, oder? Bis zum nächsten Mal...



"Senioren"
Von Gottfried Glöckner

Seit zwei Jahren ist es amtlich: Ich bin Senior. Unwiderruflich. Ab 50 zählt man zum alten Eisen. Beruflich wie privat. Bewirbt man sich mit 50 um einen neuen Job, erntet man bei Personalmanagern nur Gelächter. Für die eigenen Kinder ist man der Gruftie schlechthin – jenseits von Gut und Böse. Und bei den alljährlichen Laufevents startet man in der Altersklasse M 50. Deprimierend, oder? Fest steht, wir sind Lauf-Opas. 
Sind wir Lauf-Opas? Gehören wir wirklich zur Sorte, die sagt: Ich fühl’ mich noch ganz flott und rüstig. Oder sagen das nicht vielmehr die, die längst abgeschlossen haben? Die, die sich den sozialen Üblichkeiten unterwerfen, wonach man ab 50 die Rente vor Augen hat und seit zehn Jahren die Enkel? 
Nein, wir sind aus anderem Holz geschnitzt. Wir sind nicht die, die unseren Kindern Wunderdinge über uns erzählen, wie die Väter. Auch wenn es hier und da zwickt, die Regeneration länger dauert, als in jungen Jahren. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Was heißt das überhaupt - unterkriegen? Wer so denkt, hat bereits verloren. 
Dennoch, die Frage sei erlaubt, was treibt uns, was macht uns Beine, sei es laufend, mit dem Rad oder sonstwie? Warum strampeln wir uns im biblischen Alter noch ab? Ist es Nostalgie, Eitelkeit, etwa Koketterie, wenn man uns schmeichelt und sagt: Wow, schon 50, hätt’ Sie bei Ihrer Figur glatt auf 40 geschätzt! Das geht uns runter wie Öl. Aber ist das der eigentliche Grund? Kürzlich berichtete Ahmed Rejjali von seiner Euphorie, als er die 100 Kilometer unter acht Stunden und den Marathon unter 2:50 lief. Das hält ihn auf Trab. Sein Ziel: "Noch 20 Jahre fit bleiben und sich fühlen wie 40." 
Für Klaus Hofmann ist Sport das zweite Leben. Den ganzen Tag am PC sitzen, nur Kopfmensch sein, ist öde. "Abends möchte ich endlich Körper sein, Bewegung genießen, Natur erleben – mit Lauffreunden das Tempo spüren." Sein Motiv: Den Alltag ordnen, an verrückte Laufziele denken und das Unmögliche erreichen. Kein Zufall, dass er alle Strecken, von 100 m bis 100 km bereits bewältigt hat – und nicht irgendwie.
Warum also laufen wir 50-jährigen? Ich glaube, weil wir einfach großen Spaß haben, weil wir körperlich gut drauf sind, uns 20 Jahre lang wie 40 fühlen und im Kopf fitter, als andere. Weil wir uns an manchen Tagen so stark fühlen, als könnten wir Bäume ausreißen. Weil wir in der Tat noch ehrgeizig sind, wissen wollen, wo die Grenzen sind und in Bereiche vordringen, in denen die Luft dünn wird. Das hält uns in Schwung. Das macht uns Lust. Es ist die pure Freude am Leben, jenes ozeanische Gefühl, das uns beim Laufen durchströmt. Dieser Impuls ist uns wie eingebrannt. Auch mit 70 noch, wenn wir ein wenig langsamer, ein wenig kurzatmiger und für andere irgendwie lächerlich wirken. Tatsächlich amüsieren wir uns köstlich, wenn wir laufen und an unsere Streiche denken – beim Sport und außerhalb.



Kreisläufer
Von Gottfried Glöckner

Eigentlich laufe ich immer im Kreis rum. Eine Runde gleich zwölf Kilometer – sommers wie winters. Manchmal laufe ich auch zwei oder drei Runden. Das entspannt. Ich brauche auf nichts zu achten: Die Strecke kenne ich auswendig. Keine Wurzel, keine unverhofften Steine, nichts stört meine Bahn. 

Es schnurrt – mal besser, mal schlechter. Alle Läufer kennen das. Ich folge dem Fluss der Gedanken. Drehen sie sich im Kreise, breche ich ab und forciere das Tempo. Da bleibt keine Luft mehr zum Denken. Schaue jetzt nach außen, auf die Bäume, deren Blätter zu Boden segeln, auf die Leute, die entgegen kommen. Grüße Läufer und Läuferinnen. Das mache ich immer – egal, wer kommt. 

Wenn der Atem rasselt und die Beine schmerzen, werden auch die Gedanken wieder leichter. Der Job? Alles easy. Die Familie? Wird schon. Das Alter? Dem laufe ich davon. Pure Euphorie. Vor mir taucht die Autobahnbrücke auf. Neun Kilometer sind geschafft. Jetzt kommt ein leichter Anstieg – kein Problem. Mein Sohn ist jetzt 10. Geht nächstes Jahr aufs Gymnasium. Er ist aufgeweckt, spielt Fußball wie früher Berti. Ein kurzer Spurt und die Runde ist beendet. Könnte jetzt nach Hause traben. Es ist Samstag 16.30 Uhr. Ich überrede mich, noch eine kleine Schleife anzuhängen. 

Das geht überraschend gut. Seitdem ich öfters zweieinhalb Stunden laufe, absolviere ich die kurzen Strecken mit mehr Kraft. Die Tempoläufe kosten allerdings Überwindung. Für die Vorbereitung auf den Frankfurter EURO-Marathon habe ich extra im Darmstädter Stadtwald eine Strecke vermessen. Genau einen Kilometer lang, leicht abschüssig. Jede Woche lief ich einmal 8x1.000 Meter im Schwellentempo. Vier Minuten pro Kilometer und das über zwölf Wochen. 

Einmal, es war im August, die Sonne brannte, kam mir Ironman Lothar Leder entgegen – joggend mit Kind im Lauf Buggy. Ich grüßte, er nicht. Als ich den fünften Tausender absolviert hatte, kreuzte Leder erneut meinen Weg. Jetzt kam er aus der anderen Richtung. Sein Kind schlief. Er schaute an mir vorbei. Leicht und locker lief er dahin, nein, er schwebte, völlig losgelöst. 

Vor mir taucht unser Wohnhaus auf. Leicht außer Atem, erreiche ich das Hoftor. Noch fünf Steigerungsläufe und das Wochenprogramm ist beendet. Rund 21 Kilometer habe ich heute geschafft. Nicht schlecht zum Saison-Ausklang. Dennoch: Wie der Leder das bloß macht? frage ich mich. Dieser schwerelose Laufstil. Bestimmt ist er kein Kreisläufer, lacht eine innere Stimme. Das stimmt, antworte ich, er rennt hin und her. Da stürzt mein Sohn aus dem Haus und ruft: Papa, wir gehen jetzt auf den Sportplatz und rennen! Okay, rufe ich zurück, aber nicht im Kreis!

Erlebnisse im Grenzbereich
Von Gottfried Glöckner

EURO-Marathon Frankfurt: Erfahrungen zwischen Lust und Pein, Entzücken und stillem Glück

Mein zehnter Marathon insgesamt. Wieder mal 42,195 Kilometer am Stück. Geschafft, am Sonntag, dem 28. Oktober beim 20. EURO-Marathon in Frankfurt. Zum fünften Mal in Folge in Hessens Metropole am Main angekommen. Doch an diesem regnerischen Sonntag vormittag war alles anders als sonst. Was war das doch für ein seltsames Gefühl, als mir eine Helferin hinter dem Ziel eine Medaille um den Hals hängte und mir entgegenträllerte: "Hatten Sie einen schönen Lauf? Waren Sie zufrieden?". 

Diese übertriebene Fröhlichkeit und der allgemeine Trubel im Zieleinlauf wirkten seltsam unwirklich. Irgendwie war ich noch nicht ganz da, die Beine wollten längst nicht mehr und doch schleppte ich mich an den nächsten Getränkestand. Endlich, trinken im Stehen. Zwei, drei Stück Kuchen nachgeschoben und wieder trinken. Doch da war nur leiser Triumph, leiser Stolz und ein bißchen Glück. Vielleicht waren noch die Momente zu nahe, in denen eine innere Stimme gerufen hatte: "Was musst du dir beweisen?" Und wie eingebrannt ihr Befehl: "Das war der letzte Lauf! Nie wieder!"

Die zweite Luft

Ein Entschluss, der wenig später trotz schmerzender Waden und belegter Stimme kaum noch Wert besaß. Diese 3:20:20 Stunden - in Altersklasse M 50 immerhin ein Vorderplatz - müssten sich doch endlich auf eine Zeit mit einer zwei am Anfang drücken lassen, meldete sich plötzlich jene Stimme, die noch wenige Kilometer zuvor fast die Mitarbeit aufgekündigt hatte. Da war die Zielvorgabe 3:10 längst ad acta gelegt. Eingestampft und verworfen als der Körper beinahe den Dienst versagte und nur der Trubel am Straßenrand, die Zuschauer, die Musik und schreiende Kinder einen auf Trab hielten. Doch so fetzig und laut können keine Musik und auch keine Kids auf Dauer sein. An den Getränkeständen waren zwei, drei Schritte Gehpause angesagt, mehrere Becher Wasser, ein Stück Banane und die Hoffnung auf die "zweite Luft", das so oft beschriebene Hochgefühl des Läufers. 

Das kam dann auch tatsächlich. Aber nur in ganz seltenen Augenblicken und in geringer Dosierung. Besonders dann, wenn man den ein oder anderen Läufer vor sich ein- und überholte. Und der Blick zur Seite einem sagte: Dem geht`s noch schlechter. Da bewegten sich die Beine gleich wieder schneller und ein Gefühl der Stärke durchzog den Körper. Auch die Sprüche einiger Plakate taten in diesem Stadium ihr Übriges: "Quäl dich, du Sau", hieß es da. Und man erinnerte sich an Jan Ullrich und seinen Radprofi-Kollegen Udo Bölts. 

Doch warum musste mich dieses Tief nach gut 30 Kilometern so hart und unvermittelt treffen? Dieser typische Einbruch, wie ihn so viele Marathonläufer beschreiben und den ich längst überwunden glaubte. Wo waren die Kraft, der Mut des ersten Streckenabschnitts, den ich programmgemäß angegangen war. In 1:35 Stunden, mit einem guten Polster zum vorherigen Halbmarathontest. Aber doch wohl einen Tick zu schnell, wie Jörg Barion (2:39:55), Vereinskollege vom TuS Griesheim bei Darmstadt, bescheinigte. Ein alter Fehler, den Freizeitläufer, aber auch ambitionierte Läufer, ja sogar Profis immer wieder begehen. Das Hochgefühl der Bewegung nach dem Start, der Lauf der Massen, verführen dazu, dass man zu hohes Tempo geht. Und das rächt sich auf der zweiten Hälfte. 

In Trance zum Ziel

Wie in Trance verläuft dann für viele die letzte Schleife zum Ziel. So beschrieb es auch die Viertplatzierte, die Darmstädterin Petra Wassiliuk (2:32:59): "Bei Kilometer 31 hatte ich nicht mehr genug Kraft und bin ins Hohlkreuz gefallen. Vom Rücken über das Gesäß arbeitete sich die Verkrampfung und Müdigkeit in die Beine vor, die dann schwer wie Blei wurden." Eine Erfahrung, die viele Hobbyläufer machen und ein Trost: Auch Hochleistungssportler leiden bei einem Marathon. 

Das muss nicht sein. Oder doch? Vielleicht sind es gerade diese Erlebnisse im Grenzbereich, die sich ins Gedächtnis eingraben und zum Wiederholungstäter werden lassen. Diese Erlebnisse zwischen Lust und Pein, zwischen Entzücken und den unvermeidlichen Anfällen voller Zweifel und Verzagtheit. Schrecklich schön, wenn - ja, wenn man nach 42,195 Kilometern das Ziel erreicht.



Orthopäden
Eisenmänner

Der Körper will nicht mehr. Senioren, die mit 50 aussehen wie 30, sind trotzdem 50. Orthopäde Dr. Süß, bei dem ich in Behandlung bin, weiß, wovon er spricht. Er ist 36 und hat die Gebrechen seiner Patienten noch vor sich. Gewebe, Bänder, Sehnen altern eben, sagt er. Poetisch, dachte ich und das vor Weihnachten. Hätt’ ich nicht besser können. Meine Achillessehne zwickt trotzdem erbärmlich. Eigentlich schon seit Jahren. Und jetzt immer mehr. Täglich traktiere ich das Teil mit meinem Tens-Gerät. Einmal waren die Schläge so stark, dass ich am nächsten Tag nur noch humpeln konnte. Das war zuviel. Gewebe und Sehne liefen rot und blau an. 

Als ich samstags drauf einen kleinen Lauf absolvieren wollte, musste ich nach 30 Minuten stehen bleiben. Der Schmerz war so stark, dass ich keinen Schritt mehr gehen konnte. Im Halbdunkel schleppte ich mich nach Hause. Die Frau Mitte 60, die mir mit Hund über den Weg lief, sah mich skeptisch an. Vielleicht dachte sie, ich täusche die Verletzung nur vor. 

Am nächsten Tag – es war Sonntag - hielt ich absolute Ruhe. Kein Tens, kein gar nichts. Trotzdem musste ich nachmittags mit Frau und Kind in den Wald. Dabei hingen die mich glatt ab. So geht es Behinderten, dachte ich und sah mich schon im Rollstuhl sitzen. Ich war frustriert und ließ meine Laune an der Familie aus. Auch DSF und Eurosport machten keinen Spaß mehr. Hinzu kam, dass die Eintracht zum vierten Mal hintereinander nicht gewann. 

Ich zappte lustlos durch die Programme. Beim ARD-Tatort blieb ich hängen. In einer Sequenz sah man einen Mann, der durch den Wald hetzte. Er war um die 50 und hatte einen Gehfehler. Jedenfalls zog er das linke Bein nach. Sofort wurde ich wach und dachte: der spielt nur. In dem Moment krachte auch schon ein Revolver. Die Frau, die hinter dem Mann herlief, war gnadenlos. Es krachten noch zwei, drei weitere Schüsse. Dann fiel der Mann kopfüber auf den Waldboden. Ich war erleichtert. Keine Schmerzen mehr, dachte ich herzlos.

Meine dagegen ließen den ganzen Sonntag nicht nach. Das Schlimmste kam dann am Montag. Nachdem ich zehn vor 8.00 meinen Sohn in die Schule gefahren hatte und das Auto zurück in die Einfahrt – montags ist nämlich Frau-Kind-Auto-Tag – humpelte ich so schnell es ging zur Bushaltestelle. Weil noch zwei Minuten Zeit waren, kaufte ich beim Bäcker zwei Teilchen. In dem Augenblick fuhr auch schon der Bus vor. 

Schnell rannte ich die Stufen runter und ... fast wäre ich gestürzt. Stützte mich gerade noch mit dem lädierten Bein ab und ... Blitz, Feuer, Teufel durchzuckten die Wade. Da stand auch schon der Siedlungspfarrer vor mir und starrte mich ungläubig an. Ich grüßte erschrocken, dabei schossen mir die Tränen in die Augen. Fehlte nur noch, dass er gesagt hätte: Gott sei mit dir. Das ist jetzt drei Wochen her. Und ich ziehe noch immer das linke Bein nach. Trotz Laser und dreimal die Woche Groß-Umstadt. 

Die Sehne ist gealtert, sagt Dr. Süß so, als hätte er mehr Mitleid mit ihr als mit mir. Was kann man machen?, frage ich. Enzyme helfen, Vitamine auch, sagt er. Im äußersten Fall muss man das Gewebe austauschen. Ich blicke ihn fragend an. Gewebe austauschen? Wie das? In dem Augenblick sind wir auch schon beim Thema Spritze. Dr. Süß will nicht. Eigentlich, sagt er, rate ich davon ab. Laser dauert zwar länger, ist aber schonender für Sehnen und Gewebe. 

Weil ich aber in dem Moment so alt aussehe und leidend mit meinen 51, lässt der Doc sich erweichen. Er ist immerhin 15 Jahre jünger als ich und hat Verständnis für Seniorenprobleme. OK, sagt er. Aber nicht in die Sehne, sondern ins Gewebe. OK, sage ich und sehe einen Silberstreif am Horizont. Schnell lege ich mich auf den Bauch, rutsche noch ein Stück runter. Und schon macht’s pieks links, pieks rechts. Pflaster drauf und fertig ist der Lack. Das kriegen wir schon wieder hin, beruhigt mich Süß. Und ich denke: Beim letzten EURO-Marathon in Frankfurt war ich immerhin 20 Minuten schneller als du. Wenn’s hilft, verzeihe ich dir auf immer und ewig deine 3 Stunden und 40 Minuten.



Eisenmänner
Eisenmänner
 

Lothar Leder ist Darmstädter. Ich auch. Muss ich ihn deshalb mögen? Leder hat schon Tausend Triathlons gewonnen: kurze, mittlere, ultras. Nur den superschweren Hawai-Triathlon mit 3,8 km schwimmen, 180 km Rad fahren und 42,195 km Marathon laufen, den konnte er noch nicht in die Tasche stecken. Letztes Jahr dritter, dieses Jahr fünfter. Ein Rückschritt. Wie Leder Anfang Oktober auf der ARD mit Magenbeschwerden beim Laufen kämpfte, tat er mir echt leid. Wirklich. Ich habe ihm ganz fest die Daumen gedrückt. Nach dem Schwimmen lag er noch auf Rang drei. Ich reckte begeistert die Faust und klatschte, was das Zeug hielt. Mein Sohn rief, ob was wäre. Super Perspektive, rief ich zurück. Dann kam das Rad, die Hitze, der Wind – und aus war’s. Einer nach dem anderen überholte ihn. 

Ich habe noch nie was gewonnen. Schon gar nicht beim Triathlon. Hab’s noch nie probiert. Meine Problem-Disziplin ist das Schwimmen. Mit zehn bin ich beim Freischwimmer fast abgesoffen. Und beim Laufen? Dritter beim diesjährigen Griesheimer Citylauf in der M 50 war ich. Das war bisher das Größte. Habe auch auf dem Treppchen gestanden – stolz wie ein Spanier. Zwar saßen an dem Samstag gegen 17.30 Uhr nur noch 15 gelangweilte Leute auf dem Marktplatz rum – ein Unwetter zog auf und ab 20.00 Uhr lief das legendäre 1:5 gegen England. Trotzdem: Ich hab’ mich gefühlt wie Boris 1985 als er mit 17 das Wimbledonfinale gegen Kevin Curren gewann. 

Endlich einmal oben stehen, dachte ich. Da spielt es auch keine Rolle, dass der erste in der M 50 rund drei Minuten schneller war als ich. Hauptsache im Rampenlicht von Ludwig, der wie wild mit dem Fotoapparat knipste und Ellen, die routiniert meinen Namen verlas. Die Urkunde und die Socken überreichte mir Heinz. Ich nahm sie dankbar an. Mein Podiums-Foto auf der TUS-Homepage vermisse ich allerdings noch heute! Geklatscht haben übrigens auch drei Leute. Ich bedankte mich mit einem lässigen Kopfnicken. 

Im Echo fand ich mich montags drauf auch wieder – zwar mit falschem Namen – Glöckler hieß ich – aber jeder, der das las, wusste, gemeint konnte nur ich sein. Wie viele haben das eigentlich gelesen? Das Echo hat eine Auflage von 110.000. Davon lesen mindestens 55.000 den Sportteil und noch 10.000 die dritte Sportseite. Dort, wo es keine Farbe mehr gibt und nur das Foto mit dem Sieger - da gab es den Bericht und die Ergebnisse. 

Den Bericht haben auf alle Fälle die 25.000 Bewohner von Griesheim gelesen und die 280 Läuferinnen und Läufer des 10-Kilometerlaufes. Und eine Unbekannte, die ich vorm Lauf beim Umziehen in einer Seitenstraße traf. Aber wer hat die Ergebnisse gesehen? Und welcher Wagemutige verirrte sich in die Zeile, wo fett: M 50 stand? Vielleicht die 40 Läufer der M 50? Wer von denen verweilte noch eine zehntel Sekunde bei meinem falschen Namen? Ich weiß nicht. Leider kennt mich in Griesheim keiner und in der Laufszene bin ich ohnehin ein unbeschriebenes Blatt. Wahrscheinlich sind die meisten achtlos über mich und meine Zeit hinweggegangen. 

Nur einer nicht: ich selbst! Kein Witz: In den folgenden zehn Tagen habe ich mindestens einmal pro Tag – nach der Arbeit – die Seite mit den Ergebnissen studiert. Ich war stolz auf mich. Lothar Leder bestimmt nicht. Obwohl der Darmstädter ist wie ich. Übrigens: Im Sommer traf ich Leder im Stadtwald, mit Kind und Laufbuggy. Irgendwie sah er vornehm auf mich und meine Laufbemühungen herab. Der große Leder, dachte ich, sechs Wochen vor Hawai im Wald. Was der leistet, ist gigantisch. Auch wenn er nur fünfter dieses Jahr wurde. Diese Strecke in 8 Stunden 49 Minuten zu bewältigen, ist famos. 

Ich gestehe: Ich bewundere diese Leistung. Aber warum hat Leder beim Zieleinlauf nach dem Marathon den Lorbeerkranz der freundlichen Hawaianerin einfach ausgeschlagen? Man sah, dass die junge Frau richtig verzweifelt war mit dem Kranz in der Hand. Leder trabte einfach weiter. Wut, Enttäuschung, Niedergeschlagenheit im Gesicht. Wie er im Wald auf mich niedersah und auf Hawai den Kranz ausschlug, das hat mich enttäuscht. Dabei ist er von Berufs wegen bloß Bankangestellter. Kein Grund also, sich was einzubilden. Nix gegen Bankangestellte. Ich kenne eine ganze Reihe davon. Alles patente Kerle. Doch keiner ist so vornehm wie Eisenmann Leder. Allerdings haben die auch noch keine tausend Triathlons gewonnen. 

Wer im Rampenlicht steht und bewundert wird, dem gehen, wie man so schön sagt, die Gäule durch. Das kann mir nicht passieren. Ich bin eben kein Winner-Typ. Und bewundern tut mich sowieso keiner. Gut so. Dann bleibe ich wenigstens auf dem Teppich und freue mich wie Boris, wenn ich 2002 beim Griesheimer Citylauf die 10 Kilometer endlich unter 40 Minuten laufe.