Null-Checker
Wer versagt, ist out. Das gilt nicht
nur für Läufer, auch Fußballer, Skispringer und all die
vielen kleinen und großen Menschen können ein Lied davon singen.
Warum einer scheitert, spielt meist keine Rolle. Krankheit, Verletzung,
Alter oder situative Unpässlichkeit werden als Motive nicht anerkannt.
Was zählt, ist der Erfolg. Und wer das Klassenziel verfehlt, wer unterm
Strich bleibt, egal in welchem Bereich, ist ein Looser oder Null-Checker
wie es neudeutsch-modern heißt. Warum sollte es auch anders sein?
Wir leben schließlich in einer Leistungsgesellschaft und nicken alle
heftigst, wenn uns Politiker und Manager sagen: Leistung muss sich wieder
lohnen. Dass wir bei den Leistungsverweigerern und Versagern immer nur
an die anderen denken, versteht sich von selbst.
Jüngstes Beispiel: Sven Hannawald.
Hanni, unser Sonnyboy, schaffte bei der Ski-WM in Val di Fiemme die Sensation
und durfte nicht mal aufs Treppchen. Die leidgeprüfte TV-Gemeinde
musste mit Platz 7 vorlieb nehmen. Was für ein Frust. Der TV-Gucker
heulte bei Hannis Sprung laut auf und ertränkte anschließend
seine Enttäuschung bei einem Weizen. Noch drei weitere solcher Sprünge
und Hanni reiht sich umstandslos ein in die Riege der Versager. Das geht
schnell heutzutage. In Zeiten wie diesen, in denen das Veränderungstempo
rapide zunimmt, wächst auch das Veraltungstempo. Der Ruhm von gestern
zählt nichts mehr. Vom Hero zum Looser ist es nur ein kleiner Schritt.
Das musste auch Bayer 04 Leverkusen
schmerzlich erfahren. Gestern noch Champions-League-, Pokal- und Meisterschafts-Vize
– heute die Lachnummer der Nation. Und mittendrin Calli, der Dicke vom
Werk, rheinische Frohnatur und letzter Fußball-Romantiker mit Hang
zur Sentimentalität. Wer ihn sieht, den 140-Kilo-Mann – gerissen,
witzig, jovial, gemütlich - kann nicht anders als ihm alles Gute wünschen.
Solches Mitgefühl ist heute die Ausnahme. Wir leben in einer Zeit
der Biertischstrategen. Was zählt, ist das schnelle Urteil, der flotte
Spruch, die gelungene Pointe. Worte wie Versager, Weicheier oder Nullen
bilden hier das Wortschatzgerüst. Doch dies gilt nicht nur für
die sachkundigen Brüder mit den roten Bluthochdruckköpfen und
den lauten, halbfertigen Gedanken, nein, es betrifft auch die, die es besser
wissen müssten. Seien wir doch mal ehrlich. In jedem von uns steckt
so ein kakaphonischer Stammtischbruder, der um gehört zu werden, laut
und bierselig in das Schnellurteils-Geschrei einstimmt. Auch wir schimpfen,
wenn Hanni zehn Meter zu kurz springt oder bekannt wird, wie viele Millionen
Effe verdient.
Wir sind die ersten, die über
andere richten und den Stab brechen, wenn sie uns enttäuschen. Auch
wir sind gnadenlos. Denn Misserfolg will keiner, Misserfolg ist hässlich,
schlecht, macht depressiv und aggressiv. Das gilt in der Politik, im Beruf,
in der Familie und auch im Sport. Wir alle sind beseelt vom Siegen und
Gewinnen, fordern von den anderen immer Höchstleistung und vergessen
allzu leicht, dass wir auch oft keine Lust haben, der Job uns stinkt, Familie
und Kollegen uns anöden und wir viel lieber den ganzen Tag im Bett
blieben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Mit uns gehen wir sanfter um, sind
nachsichtiger und hängen die Messlatte tiefer. Die anderen sind die
Übeltäter, unser schlechtes alter ego. Das sortieren wir aus,
erst gedanklich, dann physisch, schließlich scheint es uns, als existierte
es nicht mehr. Welch ein Irrtum! Die Looser und Null-Checker, sie kehren
zu uns zurück – manchmal auf schreckliche Weise, wie uns Robert Steinhäuser,
der Killer aus Erfurt oder der 17-jähriger Sniper aus LA gezeigt haben.
In diesen Augenblicken wird uns klar, dass Sieg und Niederlage, Erfolg
und Misserfolg zwei Seiten der einen Medaille sind. Wir können das
eine nicht ohne das andere haben. Das Leben ist nun mal so. Und so müssen
wir auch im Sieg und im Erfolg kühlen Kopf bewahren und wenn wir glauben,
auf der sicheren Seite zu sein, daran denken, dass wir schon morgen zu
den anderen gehören können.
Laufanfälle
Laufen ist wie Lieben! Erst strampelt
man sich ab, und wenn es dann soweit ist, kommt man erschöpft, aber
glücklich ins Ziel. Dazwischen hangelt man sich von einer Höhe
zur nächsten, durchlebt Gefühle größter Wonne, höchsten
Glücks. Jetzt mal ehrlich: Es gibt doch keine Tätigkeit, die
schöner und fröhlicher stimmen und die Fantasie mehr beflügeln
könnte. Wo außer beim Laufen fliegt der Geist gemeinsam mit
dem Körper. Wo außer beim Laufen durchdringen sich Körper
und Geist intensiver. Im Rhythmus der Füße, im Schwingen der
Arme, im Pulsieren des Blutes ist der Mensch eins mit sich und seiner Umwelt.
Im Idealfall joggt der Läufer,
die Läuferin durch sein ganzes Leben, erlebt frühe Kindheit,
Landschaften und Städte und wandert wie ein Geist durch die Vergangenheit.
Es muss eine Entsprechung geben zwischen Lieben, Laufen und Träumen.
Im Traum ist der menschliche Geist oft schwerelos wie in der Liebe oder
beim Laufen. Da entwickelt er seltsame Kräfte der Fortbewegung. Er
läuft, er schwebt über dem Boden, er fliegt durch die Lüfte.
Bestimmt sind diese märchenhaften
Bravourleistungen frühzeitliche Überbleibsel, halluzinatorische
Erinnerungen an ein Dasein voller Leichtigkeit und Mühelosigkeit.
Beim Laufen durchdringt der Geist den Körper und hebt ihn empor. In
Füßen, Lungen, beschleunigtem Herzschlag erlebt der Läufer
eine Erweiterung seines Selbst. Die quälenden Probleme des Alltags,
die ich mir an einem langen, stockenden, manchmal frustrierenden Tag schaffe,
kann ich in der Regel durch Laufen am Abend abschütteln. Lösen
kann ich sie nicht immer. An Tagen, an denen ich nicht laufen gehen kann,
bedrückt mich ein Gefühl der Schwere, habe ich den Eindruck,
nicht ich selbst zu sein und wer immer auch dieses lauflose Selbst ist,
es ist beladen und unfrei und ich mag es tausendfach weniger als das andere.
Solange ich denken kann, bin ich in
Bewegung. Von klein auf rannte ich über die Felder in die Wälder.
Wenn es nicht Laufen war, dann Rad fahren, Schwimmen oder Gehen. Wobei
Gehen ohne die Nähe einer Freundin, selbst schnelles Gehen, nur ein
schlechter Ersatz fürs Laufen war. Das wusste schon Franz Kafka, der
Verzweifelte, der immerzu vor dem Gesetz auf und ab lief oder mit dem Ruderboot
auf der Moldau die selbstgestellten Rätsel zu lösen suchte. Auch
ist es nicht überraschend, dass der Romantiker Joseph von Eichendorff
beeindruckende Entfernungen durchwandert hat, denn man kann den pulsierenden
Takt eines Läufers in seinen sonnendurchfluteten, fröhlichen
Gedichten spüren. Noch etwas: Selbst der britische Premier Winston
Churchill, berühmt für seinen Spruch: No sports!, rannte in seiner
Jugend meilenweit durch den Hyde Park.
Als ich jetzt im Mai, drei Monate nach
meiner Verletzungspause, wieder zu Laufen anfing, war es, als schleppte
ich tausend Tonnen Ballast mit mir rum. Das musste in den folgenden Wochen
erst einmal abgebaut werden. Und mich überkam ein solches Schuldgefühl,
dass ich beinahe zwanghaft rannte. Nicht als Ausgleich zu den Anstrengungen
des Alltags, sondern um den Alltag überhaupt bewältigen zu können.
Während ich lief, lief ich in Gedanken Arbeitsabläufe durch,
sah ich Formulierungen und Lösungen mit einer solchen Klarheit vor
mir, dass ich sie nur aufschreiben musste, wenn ich zu Hause ankam. Was
für eine seltsame Erfahrung.
Ohne die Laufanfälle könnte
ich das Leben, glaube ich, nicht durchstehen. Sowohl Laufen als auch Lieben
sind stark süchtig machende Aktivitäten. Beide sind unzertrennlich
mit einer Art gesteigerten Bewusstseins verbunden, bei der die üblichen
Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt sind. Laufen, auch Lieben
erlaubt ein erweitertes Bewusstsein, bei dem ich Dinge sehe wie im Traum.
Keine Frage: Träume können zeitweilige Exkurse in den Wahnsinn
sein, die uns wie eine Firewall vor tatsächlichem Wahnsinn bewahren.
So halten uns auch die verwandten Aktivitäten Laufen und Lieben relativ
geistig gesund und schützen uns vor Gefängnis, Psychiatrie und
manchmal auch Arbeitslosigkeit.
Laufträume
Von Gottfried Glöckner
Die Frühling kommt über Nacht,
heißt ein Sprichwort. Er kommt als Überraschung, als Überrumpelung,
wenn er früh morgens seine funkelnden Sonnenstrahlen auf die Erde
wirft. Es ist Mitte März und geradezu spielerisch verzaubert er an
diesem Samstag Bäume, Gärten und Felder. Unten auf der Straße,
unmittelbar vor dem Fenster, sehe ich eine Vielzahl von Läuferinnen
und Läufern vorbeijoggen. Ihre Gesichter strahlen Zufriedenheit, ja
Glück aus. Ein sicheres Indiz, dass Winter und Kälte passé
sind. Jetzt ist die Zeit reif für Aufbruch und Erneuerung.
Ich sitze am Fenster und schaue dem
bunten Treiben tatenlos zu. Das linke Bein auf einem Hocker ausgestreckt,
ist es von der Fußspitze bis zum Oberschenkel in Gips verpackt. Stabilisierender
und schützender Mantel über einer 20 Zentimeter langen Narbe,
unter der die Achillessehne zusammengeflickt ist. Schmerzen spüre
ich keine mehr. Ab und zu ein leichtes Ziehen, nach zwei Wochen Krankenhaus
schon ein großer Fortschritt. Wer je verletzt war, weiß auch
Minimalverbesserungen zu schätzen.
Man fängt klein wieder an, nicht
nur körperlich. Keine hochfliegenden Pläne, keine hochgesteckten
Ziele peinigen das Läufergewissen. Die 10 Kilometer endlich unter
35, der Halbmarathon in 1:20 Stunden, alles Gedankenschnee von gestern.
Was jetzt zählt, ist die Politik der kleinen Schritte. Nächste
Woche Gips ab und dann neun Wochen Spezialschuh mit drei Keilen drin. In
drei Monaten der erste Zehnminuten-Lauf. Dann schreiben wir Mitte Juni
und der Sommer läuft auf Hochtouren. Diesmal ohne mich.
Jeder kennt sie, die traurigen Zeiten,
wo alle Welt auf den Beinen ist, nur man selbst bleibt zurück. Laufend
würde man am liebsten schreien, oder nur rufen, oder nur lachen, oder
nur etwas sagen und tut’s bei Gelegenheit auch. Und wenn man’s nicht tut,
hüpft zumindest das Herz vor Freude. Aber gefesselt an den Stuhl,
bleibt man stumm.
Ich will ja nicht undankbar sein. Doc
Engelhardt von der orthopädischen Uniklinik in Frankfurt hat sein
Bestes getan. Bandumkehrplastik nennt der Mediziner den Eingriff bei einem
Komplettabriss der Achillessehne. Dabei wird aus dem dickeren nach oben
geflutschten Sehnenstrang ein Teil abgetrennt, nach unten geklappt und
mit dem verbliebenen unteren Sehnenstumpf vernäht. Die Ergebnisse,
das zeigen die Beispiele von anderen Sportlern, sind äußerst
ermutigend. Lothar Matthäus zum Beispiel kickte nach zwei Abrissen
in derselben Sehne noch zwei Jahre Bundesligafußball auf hohem Niveau.
Und auch mir prognostiziert der Doc einen positiven Heilungsverlauf. Was
immer das heißen mag
Bis zum ersten Sicherheitslauf habe
ich noch eine Weile Zeit. Viel Muse also, anstatt Körper- etwas mehr
Gehirnjogging zu treiben. Das ist nicht das Schlechteste heutzutage. So
kann es passieren, dass ich an einem Samstag wie diesem mit Klaus, Jörg,
Ahmed und Heinz, Ursula und Ellen im Wäldchen unterwegs bin. Locker
traben wir durch den Stadtwald am Böllenfalltor.
Traumhaft wie das in Gedanken so leicht
und schwerelos schnurrt. Tief sauge ich die frische Waldesluft in mich
auf und lausche den Gesprächen und dem Lachen der anderen. Spüre,
wie das Blut warm durch den Körper fließt. Ein Trost, sage ich
mir, dass auch Laufträume wahr sind und zur Wirklichkeit gehören
– auch wenn sie zweifellos weniger anstrengend und leichter zu bewältigen
sind.
Angsthasen
Von Gottfried Glöckner
Angst, sagte einst vor über 150
Jahren der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, Angst ist nichts
anderes als der "Wirbel der Freiheit". Recht hat er. Denn in der Angst
wird uns klar, dass keiner da ist, der einem hilft. Das muss man schon
selber tun. Handeln, nicht lähmendes Entsetzen ist also angesagt.
Wie ich drauf komme? Der Spruch fiel mir ein, als ich vor wenigen Tagen
Vitali Klitschko, auch Dr. Faust genannt, gegen den Amerikaner Bean – nicht
Mr. Bean, sondern Vaughn Bean - kämpfen sah.
Beide Boxer blickten vor dem Kampf so,
als würden sie gleich auf die Schlachtbank geführt. Ist es Anspannung,
die Furcht vor den Schlägen? Wohl kaum. Es mischt sich so etwas wie
Todesangst ins Leben: Keiner weiß, was passiert. Klitschko, Doktor
der Philosphie, gab sich ganz cool. Dachte er etwa an Kierkegaard? Ich
denke eher, ihm war das Herz in die Boxer-Hose gerutscht. Die Star Wars
Musik diente nur dazu, das waidwunde Gemüt auf Stärke zu trimmen.
Als er die Stufen zum Ring hinaufstieg, blies Klitschko wie wild die Backen
auf, ballte die Fäuste, als wollte er sagen: Gott hilf!
Angst habe ich vor meinen Läufen
übrigens auch. Egal ob Volkslauf oder Marathon. Es ist, als liefe
man um sein Leben. So mag es auch Anni Friesinger in Salt Lake City über
3000 Meter gegangen sein. Wie teile ich das Rennen ein? Kann ich das Tempo
halten? Bei welcher Pulsfrequenz kommt der Kollaps? Steige ich aus, wenn’s
zuviel wird? Was sagen die anderen? Oder schlimmer noch: Was passiert,
wenn ich nicht gewinne? Diese Ungewissheit löst Angst aus. Alle kennen
das. Schon in der Schule stieg vor jeder Klassenarbeit die Spannung ins
Unermessliche. Vor jeder Prüfung hätte man sich gewünscht,
nie geboren zu sein. Jedes Bewerbungsgespräch war wie der Gang zum
Schafott. Und vor jedem Lauf peinigt einen der Zweifel: Wie stehe ich’s
durch? Die ewig alte Leier: Selbsterhaltung contra Herausforderung.
Kein Wunder, dass viele vor solchen
freiwillig initiierten Lebenskämpfen 20mal in die Büsche müssen.
Manche kotzen sogar. Ein früherer Freund zum Beispiel, er heißt
Peter und ging trotz Frau und zweier Kinder permanent fremd - jetzt ist
er übrigens Augenarzt und seriös - Peter also erbrach exakt 30
Minuten vor jedem Fußballspiel sein gesamtes Mittagessen. Egal ob
es gegen den Tabellenersten oder den -letzten ging. Es war eine richtige
Zeremonie. Anschließend war er erleichtert und brachte die beste
Leistung. Deshalb verzichtete er auch nie auf sein Mittagessen.
Eisenfaust Klitchko musste nicht kotzen.
Auch sein schwarzer Kontrahent nicht. Obwohl der keine 2 Meter wie Klitschko
misst und nur 72 statt 81 Zentimeter Reichweite besitzt. Solche Mannsbilder
zeigen keine Angst und gehen auch nicht fremd. Das brauchen sie nicht,
denn sie haben keine Frau. Jedenfalls keine wie wir. Sie spüren den
"Wirbel der Freiheit" und nutzen ihn. Wie wir Läufer übrigens
auch. Deshalb tänzeln wir auch immer so rum vorm Start. Wollen uns
die Anspannung aus dem Körper schütteln. Erst rennen wir uns
warm und gucken, was die anderen so machen. Dann dehnen wir ein wenig.
Wenn wir uns am Start aufstellen, fangen wir an zu hüpfen. Es ist
jedes Mal dasselbe.
Beim letzten Frankfurter Euro-Marathon
war ich Hypernervös und hatte gleichzeitig Angst. Ich wollte es unbedingt
wissen und mindestens 3 Stunden 10 laufen. Als ich locker zum Startbereich
trabe - Bereich A1, den Schnellsten also - rückt mir eine schmale
Blonde den Träger meines Lauf-Shirts zurecht. Ich bin verduzt, dann
lache ich, schließlich flachse ich mit ihr. Frage sie, wer wohl am
Ende die Nase vorn haben wird. Sie lacht und antwortet: Natürlich
ich. Ich drücke sie kurz und wünsche alles Gute. In dem Moment
spüre ich den "Wirbel der Freiheit".
Wirbel sehe ich auch in Runde vier als
Klitschko dem Bean eine solche Rechte verpasst, dass der halb einknickt.
Das Volk klatscht und johlt. Bei Bean schwillt das Auge zu. Er wankt, fällt
aber nicht. Der Kommentator sagt: "Bean ist das achte von elf Kindern,
für die gesorgt werden muss". Ich stutze. Hält der etwa deshalb
die Rübe hin? Anni Friesinger ist 22 und misst nur 1 Meter 60 . Sie
hat keine Kinder – nur einen Bruder. Groß ist sie trotzdem. Auch
wenn Claudia Pechstein Gold gewonnen hat.
Plötzlich feuert Hessens Ministerpräsident
Roland Koch die Startpistole ab. Alle rennen los. Auch die Blonde und ich.
Ich kenne nicht mal ihren Namen. Wäre das die Frau fürs Leben?
In dem Moment wird der Regen immer stärker. Ich fluche. Laufe viel
zu schnell an. Die Blonde sehe ich schon nach wenigen Metern nicht mehr.
Trotzdem schnurrt es richtig gut. Ich bin zufrieden mit mir. Das kann Klitschko
auch sein. In Runde elf traktiert er Gegner Bean dermaßen, dass der
wie ein Sack im Ring umher taumelt. Technischer KO, zeigt der Ringrichter
an. Bean ist happy, dass Schluss ist. Klopft Witaly wie wild auf die breiten
Boxer-Schultern, als wollte er sagen: Gott sei Dank, dass du mich am Leben
gelassen hast. Anni Friesinger ist enttäuscht. Sie hat alles gegeben.
In ihrer Angst lief sie Olympischen Rekord. Das reichte nicht. Claudias
Angst war größer: Sie schaffte den Weltrekord und gewann.
Als ich nach 3 Stunden 20 Minuten völlig
durchnässt das Ziel erreiche, bin ich ausgelaugt und platt wie Bean.
Bin weder Welt- noch Olympischen Rekord gelaufen. Fühle mich trotzdem
elend und wanke wie in Trance an die Getränkestände. Angst habe
ich jetzt keine mehr. Bin froh, dass mich die Blonde vom Start nicht sehen
kann. Obwohl ich mir gerade jetzt vorstellen kann, sie in die Arme zu schließen.
Genieße in diesen Sekunden den "Wirbel der Freiheit". Soll ich eine
Zigarette rauchen, laut aufschreien oder ein Bier trinken?
Keiner bejubelt mich, keiner stellt
Fragen, die Masse der Läufer ist mit sich selbst befasst. Irgendwie
bin ich stolz auf mich. Plötzlich sehe ich meine Traumfrau, nur wenige
Meter von mir entfernt. Sie liegt einem anderen Mann in den Armen. Der
tröstet sie. Ich bin enttäuscht wie Friesinger und Bean. Besser
erging es Kierkegaard. Der ist nie in seinem Leben gelaufen. Dafür
war er dreimal mit derselben Frau verlobt und erlebte jedes Mal den permanenten
"Wirbel der Freiheit". Ergebnis: Er entschied sich für Gott. Das tröstet
mich.
Achilles
Von Gottfried Glöckner
Achilles war ein großer Held. Damals vor mehreren
tausend Jahren, als er die Leiche Hektors um die Mauern Trojas schleifte.
Dumm nur, dass er später durch einen von Liebesgott Apoll gelenkten
Pfeil des Paris an der Achillesferse tödlich getroffen wurde. Geht’s
mir jetzt auch so? Keine Angst, ich bin weder Held noch Achilles und ans
Sterben denke ich auch noch nicht. Aber ich kann hassen wie Achilles. Auch
wenn es jetzt Januar ist und saukalt. Diese Leidenschaft zu hassen, bringe
ich noch auf.
Allerdings gilt mein Hass nicht Hektor, sondern meinem
Arzt. Wenn ich nur dran denke, an überfüllte Wartezimmer, überforderte
Arzthelferinnen, griesgrämige Patienten und den Doc – dann schießt
mir das Blut ins Gehirn. Der Puls rast auf Tempo 180 und ich könnte
kotzen, nur noch kotzen. Auch wenn der Magen leer ist und ich null Bier
getrunken habe. Die sterile Gleichgültigkeit, die monotonen Antworten
auf hilfesuchende Fragen, das geschäftsmäßige: "Sie haben
Ihre Rechnung noch nicht bezahlt." – lässt mich zum heimlichen Mörder
werden.
Ich spreche in Rätseln? Zum Hintergrund. Seit
einigen Tagen steht fest: Mein Achilles ist eingerissen. Die Kernspin brachte
es an den Tag. Ein kleiner sauberer Einschnitt – wie ein Stück Kuchen,
das fehlt. "Ein Viertel ist weg", sagt der Doc. Er tippt mit dem Finger
auf die Aufnahme: "Hier", sagt er, "an dieser Stelle ist’s passiert." Und
es ist, als lege er den Finger direkt in die Wunde. Ich sage: "Schön,
was kann man machen?" Antwort: "Jetzt nichts mehr." Ich: "Und vorher?"
Er: "Vor sechs Wochen hätte man gipsen können, jetzt ist es zu
spät." Ich verkneife mir eine Bösartigkeit und frage: "Was machen
wir jetzt?" Er: "Gar nichts. Sie kommen in sechs Wochen wieder und dann
sehen wir weiter."
Ich lache laut auf! "In sechs Wochen?", frage ich ungläubig.
"Und was passiert dazwischen?" Er: "Schonen und leicht dehnen." Ich frage:
"Wie schonen?" "Ja, normal gehen und leichte Dehnübungen machen."
"Aha", sage ich, und zweifele an meinem Verstand. Ich versuche einen letzten
Vorstoß: "Kein Tens", frage ich, "keine Enzyme, kein Laser, Cortison
oder sonst was?" "Nichts", sagt er, "das wächst von alleine wieder
zusammen." "Aber ich kann kaum schmerzfrei gehen", sage ich. "Das ist bei
solchen Verletzungen immer so", antwortet er leicht gereizt.
"Und was passiert, wenn es wieder zusammen gewachsen
ist?" frage ich. "Kann ich dann wieder laufen, trainieren, Tempoläufe,
lange Läufe machen, sechs mal die Woche rumrennen?" "Kann sein, dass
Sie gar nicht mehr laufen können", meint er lapidar. "Zwei, drei Mal
joggen die Woche, mehr nicht." Ich glotze ihn an wie ein Schaf. "Mehr nicht",
murmele ich mehr deprimiert als fragend in mich hinein. Er reicht mir die
Hand und kaum bin ich draußen, bittet er schon den nächsten
rein. Er verliert keine Sekunde, denke ich. Dabei war ich höchstens
vier Minuten im Sprechzimmer. Bin ich etwa zu ruhig, nicht energisch genug
oder habe ich etwa die falsche Kasse?
Klaus Hofmann sagte kürzlich: Therapie ist immer
auch eine Frage der Kasse. Er muss es wissen. Lag schon auf dem OP, als
man ihn unverrichteter Dinge wieder nach Hause schickte. Das hatte aber
nichts mit der Kasse zu tun. Im Gegenteil. "Ihr EKG stimmt nicht", sagte
der Professor zu Klaus. "Wie, mein EKG stimmt nicht", staunte Klaus. "Es
zeigt Herzrhythmusstörungen an." "Was?" Klaus lachte laut auf. "Ich
hatte noch nie Herzrhythmusstörungen", sagte er. "Ich bin kerngesund."
"Das EKG lügt nicht", sagte der Professor. "Ich operiere Ihren Schleimbeutel
heute nicht. Und damit basta!"
Klaus kommt sich vor wie einer, den man mit dem Hammer
auf den Kopp geschlagen hat. Liegt nackt im OP-Kittel auf dem Tisch und
darf sich jetzt wieder anziehen, ohne dass was passiert ist. Der Schleimbeutel
frohlockt: Noch mal davongekommen. Jetzt darf er weiter den Achilles reizen
und sein Unwesen treiben. Warte nur, denkt Klaus. Wenn das EKG wieder funktioniert,
geht es dir an den Kragen, alles nur eine Frage der Zeit. Der Schleimbeutel
lacht: Langsam mein Freund, du weißt, was Achilles wiederfuhr.
Klaus sagt nix mehr. Und ich denke, vielleicht wechsele
ich den Arzt und gehe zum Professor. Der soll gut sein und Experte in Achillesfragen.
Vielleicht akzeptiert er sogar meine Kasse und den Frevel, dass ich vorher
woanders war. Vielleicht schickt er mich aber auch wieder nach Hause und
sagt: Sie haben Herzrhythmusstörungen und nichts am Schleimbeutel.
Und ich antworte: Ich kenne den Trick, ich bin gesund, habe gar nichts
und gehe jetzt nach Hause. Und der Professor nickt und sagt: Kommen Sie
in sechs Wochen wieder. Und ich sage: Alles klar: Das EKG lügt nicht,
auch wenn es kaputt ist, Achilles wächst von alleine wieder zusammen
und in sechs Wochen schleife ich Sie als Leiche um die Häuser Frankfurts.
Berserker
Von Gottfried Glöckner
Wenige Tage noch und 2001 ist Geschichte.
Zeit, Einkehr zu halten. Wie hätten wir’s denn gern? Besinnlich oder
betroffen? Fest steht: Viel passiert in diesem Jahr. Alle Katastrophen,
alles Glück dieser Erde ziehen am geistigen Auge vorbei – politisch,
beruflich, privat. Jeder zieht seine eigenen Schlüsse. Welche Schlüsse
ziehen wir Sportler? Vielleicht denken wir: Prächtig gelaufen in 2001.
Oder: Wenn ich für jede Sekunde, die ich langsamer gewesen wäre,
ein Leben hätte retten können, Tausende Stunden würde ich
drangeben. Manche sagen sich: Im Frühjahr etwas intensiver trainiert,
wäre ich in Zeilhard oder Griesheim zwei Minuten schneller gelaufen.
Es soll auch welche geben, die in diesen
Tagen an ihre Familien denken und den Frust, wenn wir an sechs, manche
an sieben Tagen der Woche unterwegs waren. Ich frage mich: bringt’s das?
Zwei Minuten schneller und im Gegenzug Woche für Woche Sprachlosigkeit.
Dauerfrust als Familienprogramm. Immerhin 50 Prozent aller Sportlerfamilien
enden beim Scheidungsrichter. Hab’ ich mal gelesen. Hauptgrund: Sport als
Hassobjekt. Wollen wir das?
Warum übertreiben wir auch immer
so schamlos? Können uns nie mit Halbheiten begnügen. Entweder
ganz oder gar nicht, heißt unsere Parole. Dabei: Gegenüber Fremden,
Freunden oder Wettbewerbern tun wir immer so, als trieben wir überhaupt
keinen Sport. Frei nach dem Motto: Minimaler Aufwand, maximaler Erfolg.
Und wenn wir den Konkurrenten in Grund und Boden gerannt haben, heißt’s
immer: Ach, soviel hab’ ich gar nicht gemacht. Wer’s glaubt.
Tatsächlich schinden sich all die
regionalen, nationalen und internationalen Größen wie die Berserker.
Und zwar in jeder Altersklasse. Das Wort Berserker stammt übrigens
aus dem Isländischen und bedeutet: ein in ekstatischer Wildheit kämpfender
Krieger. Sind wir aus diesem Holz geschnitzt? Sind wir verkappte Krieger,
die sich den Sportplatz, die Laufbahn als Ersatz-Kampfbahn ausgesucht haben?
Selbst Hobbyläufer wie ich bringen’s in der Regel auf acht Stunden
pro Woche. Waow, staunt der Laie und tippt sich an den Kopp.
Kein Wunder, wenn beim nächsten
Lauf der Partner laut aufheult und Sohn oder Tochter stöhnen: Was,
schon wieder? Welche Konsequenzen ziehen wir aus alldem für 2002?
Nur weiter so? Noch mehr trainieren bis wir umfallen oder eine Verletzung
uns jäh ausbremst? Dann haben wir zwar nach Feierabend oder am Wochenende
alle Zeit der Welt. Aber ist das auch erstrebenswert? Missgelaunter Familienvater
mal gutgelaunte Frau und Sohn bzw. Tochter macht immer noch ein dickes
Minus. So haben wir es jedenfalls in der Schule gelernt.
Doch Spaß beiseite. Wie sehen
die Perspektiven für’s nächste Jahr aus? Noch besser werden,
Niveau halten, vielleicht gar reduzieren und ab und zu mal eine Denkpause
einlegen? Ich jedenfalls entscheide mich fürs Ganze: die ekstatische
Wildheit, den Scheidungsrichter und jede Menge Schulden. Wer macht mit?
Masochisten
Masochisten sind Menschen, die Lust
verspüren, wenn sie sich selbst quälen oder von anderen gequält
werden. Lustgewinn durch Schmerzempfinden. Das sagt zumindest der Duden.
Und der hat immer Recht. Wenn ich an meinen letzten Marathon denke, muss
ich sagen: Ich bin kein Masochist. Jedenfalls fand ich es gar nicht lustig
als mir im Schlussabschnitt die Beine versagten und mein Hirn das Denken
einstellte. Trotzdem soll es ja solche Duden-Menschen geben. Auch der Psychoanalytiker
Freud berichtete um die Jahrhundertwende von seltenen Exemplaren, die sich
auf den nackten Hintern hauen und dabei fröhlich in die Runde schauen.
Auch heutzutage hört man von ganz
normalen Bürgern, die sich in irgendwelchen Clubs den ultimativen
Kick verpassen – meistens am Wochenende, da hat man die meiste Zeit. Erst
kürzlich stellte Sigi Heinrich, Kommentator von EUROSPORT, beim Anblick
von Skisprinter Johann Mühlegg fest: Masochist – quält sich gerne!
In der Tat sah Mühlegg nach 6,7 von 10 Kilometern hundserbärmlich
aus: Irrer Blick, schnaufend, mit Schaumflocken vorm Mund. Ästheten
wenden sich bei diesen Bildern mit Grausen.
Ich gebe zu: Ich habe den Anblick genossen.
Mühlegg pfeift auf dem letzten Loch. Da helfen ihm auch die übersinnlichen
Kräfte seiner spanischen Putzfrau nix. Der ist richtig fertig, dachte
ich. Endlich mal einer, dem es genauso geht wie einem selbst, beim Marathon,
so ab Kilometer 30, wenn die Kräfte schwinden und man nur noch ‚Oma’
japst oder ‚Mama’ und die Welt und sich verflucht. Aber Lust in diesem
Stadium? Habe ich jedenfalls noch nie empfunden. War auch nie besonders
glücklich in solchen Augenblicken und auch Mühlegg sah nicht
wirklich happy aus.
Um so mehr wunderte ich mich über
Heinrichs Kommentar. Woher weiß der Mensch das alles? Sagt einfach:
Masochist und bumm. Jeder Zuschauer denkt: Aha. So sieht man also aus,
wenn’s einem Spaß macht kurz vorm Abnippeln. Puls auf 180, Sternchen
vorm Auge und die Engel überm Kopp. So ein Kommentar verleitet den
TV-Gucker geradezu zum sinnlichen Genuss: Also schnell aufs Klo, Bier aus
dem Kühlschrank und weiter Mühlegg gucken. Schnalzen mit der
Zunge, wenn er einen Steilhang raufkeucht und dabei seltsam die Augen verdreht.
Das macht Spaß. Schauen, wie andere sich mühen, abstrampeln
und kotzend ins Ziel stürzen. Da klopft sich der TV-Sadist die Schenkel
und grölt vor Vergnügen.
Sind wir auch aus diesem Holz geschnitzt?
Freuen uns, wenn andere leiden? Noch so ein Freud-Duden-Witz: In der Regel
sind alle Masos auch Sados und umgekehrt. Wow, da muss ich erst mal tief
durchatmen. Ertappt! Alle Läufer-Moral dahin. Wir sind keinen Deut
besser, wissen das nur nicht. Also aufgepasst: Wer läuft leidet, hat
Lust daran und verspürt diebische Freude beim Anblick anderer, die
halb besinnungslos über die eigenen Füße stolpern. Am liebsten
würde man die noch festhalten, damit’s länger dauert. Das wäre
dann der echte Kick. Und insgeheim, das ist die Moral der Geschichte, hätten
wir’s doch umgekehrt auch ganz gerne, wenn man uns noch piesackt nach 40
Kilometern. Zum Beispiel mit Plakaten: Quäl dich, du Sau! Mit Tröten,
schreienden Kids oder sadistischen Kommentaren. Da sind wir in unserem
Maso-Element. Fehlte nur noch, dass uns einer kurz vorm Ziel ein Bein stellt
und wir sagen: Danke!
So sind wir halt, wir Sportler, immer
fröhlich in allen Lebenslagen, stets gut drauf. Ob vor dem Fernseher
oder im Wald, ob die Wade zwickt oder das Knie – wir sind immer lustig.
Entweder weil wir uns an unseren Schmerzen oder an denen der anderen berauschen.
Deshalb lieben wir auch Sonderling Mühlegg und hassen Kommentatoren
wie Sigi Heinrich. Denn der ist nach eigener Aussage noch keine 10 Kilometer
weit gejoggt.
Meine Wünsche für 2002: Sigi
Heinrich beim Marathonlauf zuschauen und ab Kilometer 30 die Kamera ins
Gesicht zoomen. Anschließend ein Bier aus dem Kühlschrank holen
und gucken, wie er das Ave Maria singt. Leider sind Fernseh-Leute äußerst
clever: Die quatschen nur und lassen andere schnaufen.
Frauen
allein im Wald
Von Gottfried Glöckner
Unsicherheit, Beklemmung oder gar Angst
beim Laufen sind mir fremd. Egal, wo und wann ich laufe, ob auf der Straße
oder im Wald, morgens oder abends: Ich fühle mich sicher. Hunde, die
mich gierig fixieren, brülle ich an! Jugendliche, die mich anpöbeln,
ignoriere ich. Leute, die mich nicht kommen sehen, warne ich: Bitte nicht
erschrecken! Bei Frauen, die mir im Wald begegnen, noch dazu allein, habe
ich ein Problem.
Das spüren die Frauen. Nicht speziell
bei mir, sondern überhaupt. Frauen allein im Wald sind schutzlos,
ausgeliefert. Nicht zufällig laufen sie meist mit anderen oder sind
bewehrt mit Hunden, manchmal Kleinhanteln. Das kann ich verstehen. Denn
es schüchtert ein. Aber sind sie allein: Je näher man sich kommt,
desto größer wird die Unsicherheit. Dort Angst – hier Schuld.
Diese Spannung baut sich schon von weitem auf.
Den meisten kann man die Angst im Gesicht
ablesen. Nur nicht hochschauen, denkt man, einfach vorbeilaufen. So tun,
als wäre der andere nicht da. Nichts sagen, auch nicht grüßen,
das könnte als Aufforderung missverstanden werden. Kommunikation mit
Fremden im Wald – und sei sie noch so kurz – ist der erste Schritt zum
Unheil.
Warum ist das so? Übertreiben die
Frauen? Sind wir wirklich potenzielle Unholde? Welche Gedanken durchzucken
uns, wenn eine Frau unseren Weg kreuzt. Kommen alle Männer auf Gedanken?
Oder sind es nur einige, über die man dann in den Zeitungen liest.
Wie tief muss das Misstrauen sitzen, die Urangst, das Opfer von Gewalt
zu werden. Und warum fühlt man Schuld in sich aufsteigen, wenn man
einer Frau begegnet. Ist es Kollektivschuld, die man spürt? Die Ahnung,
das Wissen von Barbarei, die das eigene Geschlecht angerichtet hat?
Fest steht: Die Unsicherheit ist tief
verwurzelt. Es steckt ein Stück Erinnerung darin, an Chaos, Anarchie
und Gesetzlosigkeit. Etwas vom Wilden, Ungezähmten hat in uns überlebt.
Meistens ist es unter Kontrolle. In seltenen Augenblicken jedoch ahnen
wir seine Macht. Aber seien wir ehrlich: Ist man dann auf gleicher Höhe,
läuft aneinander vorbei, grüßt ganz höflich: Hallo!
ist alle Anspannung dahin. Lächeln hier, Lächeln da. War doch
gar nicht so schlimm, oder? Bis zum nächsten Mal...
"Senioren"
Von Gottfried Glöckner
Seit zwei Jahren ist es amtlich: Ich
bin Senior. Unwiderruflich. Ab 50 zählt man zum alten Eisen. Beruflich
wie privat. Bewirbt man sich mit 50 um einen neuen Job, erntet man bei
Personalmanagern nur Gelächter. Für die eigenen Kinder ist man
der Gruftie schlechthin – jenseits von Gut und Böse. Und bei den alljährlichen
Laufevents startet man in der Altersklasse M 50. Deprimierend, oder? Fest
steht, wir sind Lauf-Opas.
Sind wir Lauf-Opas? Gehören wir
wirklich zur Sorte, die sagt: Ich fühl’ mich noch ganz flott und rüstig.
Oder sagen das nicht vielmehr die, die längst abgeschlossen haben?
Die, die sich den sozialen Üblichkeiten unterwerfen, wonach man ab
50 die Rente vor Augen hat und seit zehn Jahren die Enkel?
Nein, wir sind aus anderem Holz geschnitzt.
Wir sind nicht die, die unseren Kindern Wunderdinge über uns erzählen,
wie die Väter. Auch wenn es hier und da zwickt, die Regeneration länger
dauert, als in jungen Jahren. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Was heißt
das überhaupt - unterkriegen? Wer so denkt, hat bereits verloren.
Dennoch, die Frage sei erlaubt, was
treibt uns, was macht uns Beine, sei es laufend, mit dem Rad oder sonstwie?
Warum strampeln wir uns im biblischen Alter noch ab? Ist es Nostalgie,
Eitelkeit, etwa Koketterie, wenn man uns schmeichelt und sagt: Wow, schon
50, hätt’ Sie bei Ihrer Figur glatt auf 40 geschätzt! Das geht
uns runter wie Öl. Aber ist das der eigentliche Grund? Kürzlich
berichtete Ahmed Rejjali von seiner Euphorie, als er die 100 Kilometer
unter acht Stunden und den Marathon unter 2:50 lief. Das hält ihn
auf Trab. Sein Ziel: "Noch 20 Jahre fit bleiben und sich fühlen wie
40."
Für Klaus Hofmann ist Sport das
zweite Leben. Den ganzen Tag am PC sitzen, nur Kopfmensch sein, ist öde.
"Abends möchte ich endlich Körper sein, Bewegung genießen,
Natur erleben – mit Lauffreunden das Tempo spüren." Sein Motiv: Den
Alltag ordnen, an verrückte Laufziele denken und das Unmögliche
erreichen. Kein Zufall, dass er alle Strecken, von 100 m bis 100 km bereits
bewältigt hat – und nicht irgendwie.
Warum also laufen wir 50-jährigen?
Ich glaube, weil wir einfach großen Spaß haben, weil wir körperlich
gut drauf sind, uns 20 Jahre lang wie 40 fühlen und im Kopf fitter,
als andere. Weil wir uns an manchen Tagen so stark fühlen, als könnten
wir Bäume ausreißen. Weil wir in der Tat noch ehrgeizig sind,
wissen wollen, wo die Grenzen sind und in Bereiche vordringen, in denen
die Luft dünn wird. Das hält uns in Schwung. Das macht uns Lust.
Es ist die pure Freude am Leben, jenes ozeanische Gefühl, das uns
beim Laufen durchströmt. Dieser Impuls ist uns wie eingebrannt. Auch
mit 70 noch, wenn wir ein wenig langsamer, ein wenig kurzatmiger und für
andere irgendwie lächerlich wirken. Tatsächlich amüsieren
wir uns köstlich, wenn wir laufen und an unsere Streiche denken –
beim Sport und außerhalb.
Kreisläufer
Von Gottfried Glöckner
Eigentlich laufe ich immer im Kreis
rum. Eine Runde gleich zwölf Kilometer – sommers wie winters. Manchmal
laufe ich auch zwei oder drei Runden. Das entspannt. Ich brauche auf nichts
zu achten: Die Strecke kenne ich auswendig. Keine Wurzel, keine unverhofften
Steine, nichts stört meine Bahn.
Es schnurrt – mal besser, mal schlechter.
Alle Läufer kennen das. Ich folge dem Fluss der Gedanken. Drehen sie
sich im Kreise, breche ich ab und forciere das Tempo. Da bleibt keine Luft
mehr zum Denken. Schaue jetzt nach außen, auf die Bäume, deren
Blätter zu Boden segeln, auf die Leute, die entgegen kommen. Grüße
Läufer und Läuferinnen. Das mache ich immer – egal, wer kommt.
Wenn der Atem rasselt und die Beine
schmerzen, werden auch die Gedanken wieder leichter. Der Job? Alles easy.
Die Familie? Wird schon. Das Alter? Dem laufe ich davon. Pure Euphorie.
Vor mir taucht die Autobahnbrücke auf. Neun Kilometer sind geschafft.
Jetzt kommt ein leichter Anstieg – kein Problem. Mein Sohn ist jetzt 10.
Geht nächstes Jahr aufs Gymnasium. Er ist aufgeweckt, spielt Fußball
wie früher Berti. Ein kurzer Spurt und die Runde ist beendet. Könnte
jetzt nach Hause traben. Es ist Samstag 16.30 Uhr. Ich überrede mich,
noch eine kleine Schleife anzuhängen.
Das geht überraschend gut. Seitdem
ich öfters zweieinhalb Stunden laufe, absolviere ich die kurzen Strecken
mit mehr Kraft. Die Tempoläufe kosten allerdings Überwindung.
Für die Vorbereitung auf den Frankfurter EURO-Marathon habe ich extra
im Darmstädter Stadtwald eine Strecke vermessen. Genau einen Kilometer
lang, leicht abschüssig. Jede Woche lief ich einmal 8x1.000 Meter
im Schwellentempo. Vier Minuten pro Kilometer und das über zwölf
Wochen.
Einmal, es war im August, die Sonne
brannte, kam mir Ironman Lothar Leder entgegen – joggend mit Kind im Lauf
Buggy. Ich grüßte, er nicht. Als ich den fünften Tausender
absolviert hatte, kreuzte Leder erneut meinen Weg. Jetzt kam er aus der
anderen Richtung. Sein Kind schlief. Er schaute an mir vorbei. Leicht und
locker lief er dahin, nein, er schwebte, völlig losgelöst.
Vor mir taucht unser Wohnhaus auf. Leicht
außer Atem, erreiche ich das Hoftor. Noch fünf Steigerungsläufe
und das Wochenprogramm ist beendet. Rund 21 Kilometer habe ich heute geschafft.
Nicht schlecht zum Saison-Ausklang. Dennoch: Wie der Leder das bloß
macht? frage ich mich. Dieser schwerelose Laufstil. Bestimmt ist er kein
Kreisläufer, lacht eine innere Stimme. Das stimmt, antworte ich, er
rennt hin und her. Da stürzt mein Sohn aus dem Haus und ruft: Papa,
wir gehen jetzt auf den Sportplatz und rennen! Okay, rufe ich zurück,
aber nicht im Kreis!
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